Ob Pollenzucken oder Aktienkurse: Alles Zufall

Das Fundament der 'modernen' Finanztheorie


Köpfe

Als Geburtsstunde der modernen Finanzmathematik gilt heute das Jahr 1900, da in diesem Jahr Louis Bachelier (* 11. März 1870 in Le Havre, † 26. April 1946 in St-Servan-sur-Mer) seine Dissertation "Théorie de la spéculation" veröffentlichte. Im Jahr 1900 stand Louis Bachelier vor seinem Doktovater Henri Poincaré – dem zur damaligen Zeit wohl berühmtesten Mathematiker, Physiker und Philosophen – und musste seine letzten Prüfungen absolvieren. Die Ausbildung des jungen Mathematikers Bachelier war zuvor bestenfalls mittelmäßig gewesen, was vor allem damit zusammenhing, dass er im Alter von 19 Jahren Vater und Mutter verlor und im Geschäft seiner Familie arbeiten musste.

Die erste Prüfung war ein mündliches Examen zu einem vorher gewählten und genehmigten Standardthema. Bachelier hatte sich für Fragen rund um die Mechanik von Flüssigkeiten entschieden. Geprüft wurden sowohl seine rhetorischen als auch seine fachlichen Fähigkeiten. Dem Abschlussbericht des Prüfungsgremiums zufolge hatte Bachelier das Thema "tiefgreifend erfasst". Der zweite und wesentliche Teil seines Examens beschäftigte sich mit seinem eigenen Forschungsgebiet, der "Théorie de la spéculation", einer Untersuchung des Handels von Regierungsanleihen an der Pariser Börse. Zur damaligen Zeit hatte der Handel bzw. das Glücksspiel mit Wertpapieren in Frankreich einen eher fragwürdigen Ruf. Erst 15 Jahre zuvor waren dort Termingeschäfte mit Währungen legalisiert worden. Leerverkäufe, also der Verkauf geliehener Wertpapiere in der Hoffnung, von fallenden Preisen zu profitieren, war absolut tabu. Und insgesamt wurde zur damaligen Zeit die akademische Welt Frankreichs von einer elitären Institution beherrscht, in der Außenseiter und Querdenker – als der Louis Bachelier galt – kaum geduldet wurden.

Seiner Zeit voraus

Dementsprechend waren Poincaré und die Kollegen des Prüfungsausschusses nicht gerade begeistert von den Ausführungen Bacheliers (Bild rechts). Wie Poincaré in einem Bericht über die Doktorarbeit anmerkte, lag "der von Louis Bachelier gewählte Gegenstand ein wenig abseits von jenen, die unsere Kandidaten gewöhnlich behandeln." Jedoch lobte er einige der "originellen" Einsichten der Arbeit und schlug vor, dass die ungewöhnlichste von diesen noch weiter ausgebaut werden sollte. Schlussendlich wurde die Arbeit mit "mention honorable" (d. h. mit Auszeichnung) bewertet, erreichte jedoch nicht die bessere "mention très honorable", die Bachelier den Eintritt in die illustren akademischen Kreise gesichert hätte.

Im Jahr 1926 wurde in Dijon, wo Bachelier bereits früher einmal gearbeitet hatte, eine Stelle als Professor frei. Sein Rivale um den Lehrstuhl, George Cerf, war ein junger und ehrgeiziger Mathematiker, der aber vor allem über wichtige Kontakte nach Prais und zum amtierenden Mathematikprofessor in Dijon, Maurice Gevrey, verfügte. Da dieser wohl eine leidenschaftliche Abneigung gegen Bachelier hatte, prüfte er das Werk Bacheliers gründlich und fand auch einen – im Gesamtkontext – marginalen Fehler. Als schließlich das Berufungskommitee zusammentraf, konnte Gevrey einen Brief des herausragenden Wahrscheinlichkeitstheoretikers Paul Pierre Lévy vorweisen, in dem dieser Fehler bestätigt wurde. Er hatte nur die von Gevrey hervorgehobene Stelle und nicht die gesamte Abhandlung gelesen. Im Jahr 1931 entschuldigte sich Lévy bei Bachelier für den (fälschlicherweise) attestiersten Fehler, dass "der von einem einzigen anfänglichen Fehler hervorgerufene Eindruck mich wirklich davon abgehalten hat, eine Arbeit weiterzulesen, die so viele interessante Ideen enthält."

So arbeitete Bachelier bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs als Stipendiat und "freier Dozent" an der Sorbonne und nahm nach dem Krieg und 27 Jahre nach der Veröffentlichung seiner Doktorarbeit eine Professur an der kleinen Universität in Besançon an. So starb Bachelier im Jahr 1946 eher unbekannt, obwohl seine Arbeit nicht nur den Grundstein für die deskriptive Theorie der Finanzmärkte lieferte, sondern auch Pionierarbeit zur systematischen Erforschung der mathematischen Theorie der Diffusionsprozesse leistete.

Aktienkurse folgen einem unvorhersagbaren Zick-Zack

In seinen Arbeiten behauptete Bachelier, dass Aktienkurse rein zufällig verlaufen: Wie ein Betrunkener, dessen Schritte zufällig nach rechts oder nach links vom Weg abweichen, bewegen sich Aktienkurse in einem unvorhersagbaren Zick-Zack. Im Durchschnitt – genau wie beim Münzwurf – gelangt er nirgendwohin. Wenn man also nur den Mittelwert betrachtet, bleibt sein zufallsbestimmter Spaziergang für immer auf den Ausgangspunkt beschränkt. Und das wäre auch die bestmögliche Vorhersage für seine künftige Position zu jedem beliebigen Zeitpunkt. Dieser sogenannte "Random Walk" der Aktienkurse schockierte zur damaligen Zeit die Welt der Ökonomen. Wie kann es sein, dass Aktienkurse, welche doch durch rationale Investitionsentscheidungen determiniert werden, rein zufällig sind?

Auch der Kurs einer Anleihe wird – sofern neue Marktinformationen fehlen, die den Kurs in die eine oder andere Richtung treiben – im Durchschnitt um seinen Ausgangspunkt schwanken. Kurzum: Der heutige Kurs ist die beste Vorhersage. Keine Kursänderung hängt mit der vorhergehenden zusammen. Die Kursänderungen bilden eine Reihe unahängiger und gleichverteilter Zufallsvariablen. Bachelier zeichnete alle Änderungen der Anleihenkurse über einen Monat bzw. ein Jahr auf und kam zu dem Ergebnis, dass sie die Form der Gauß’schen Glockenkurve annahmen, d. h. kleine Änderungen häufen sich im Zentrum der Glocke, die wenigen großen Änderungen liegen an den Rändern. Und so kam es, dass die von Gauß entwickelte Normalverteilung – basierend auf den Untersuchungen von Bachelier – auf die Finanzmärkte angewendet wurde.

Bereits viele Jahre zuvor, im Jahr 1827, hatte der schottische Botaniker Robert Brown die Beobachtungen gemacht, dass sich Blütenstaubkörner oder andere kleine Teilchen, die in Wasser gelegt wurden, durch "Zittern" bewegten. Diese Bewegung wird durch zufällige Zusammenstösse von Teilchen ausgelöst. Im Bereich der Finanzwirtschaft werden Kursentwicklungen nicht durch physische, sondern durch informative Zusammenstösse induziert. Gute Nachrichten führen zu Kurssteigerungen und vice versa. Heute ist diese Erkenntnis unter der Terminus "Brownsche Bewegung" bekannt.

Bachelier baute das Fundament für die moderne Finanztheorie

Wie sich erst Jahrzehnte später herausstellte, war Louis Bachelier seiner Zeit weit voraus: in seiner Arbeit operierte er schon mit dem Wiener Prozess, fünf Jahre bevor Albert Einstein diesen – zum zweiten Mal – entdeckte. Auch gab Bachelier explizite Preisformeln für Standard- (Put- und Call-) Optionen und Barrier-Optionen an, 73 Jahre bevor dies Black und Scholes gelang. Basierend auf seinen Arbeiten errichteten Wirtschaftswissenschaftler eine ausgefeilte und umfassende Theorie der Finanzmärkte und des Risikomanagements, d.h. wie Kurse sich ändern, wie Investoren denken und wie man Risiko als die ruhelose Seele des Marktes versteht. Bacheliers Lehren fanden an der Wall Street bereitwillig Schüler und wurden "zum Katechismus für das, was man heute als ‚moderne’ Finanztheorie bezeichnet", so der Mathematiker und Erfinder der fraktalen Geometrie, Benoît B. Mandelbrot. Ihre breiter gefassten Grundsätze definieren immer noch den Rahmen, in dem ein großer Teil der Geldströme auf der Welt dargestellt wird. Der Wirtschaftswissenschaftler Paul H. Cootner merkt in diesem Kontext an, das Bacheliers Werk so herausragend war, "dass wir sagen können, die Untersuchung spekulativer Kurse habe ihren größten Moment in dem Augenblick erlebt, als sie konzipiert wurde."

So geht auch der Ansatz des CAPM (Capital Asset Pricing Model), der in den frühen sechziger Jahren von William F. Sharpe entwickelt wurde, auf die Ansätze von Bachelier zurück. Ebenfalls zu den von Bachelier angeregten Werkzeugen gehört die Moderne Portfoliotheorie, das in den fünfziger Jahren von Harry M. Markowitz entwickelt wurde.

Der Ansatz von Bachelier wurde später – im Jahr 1956, d. h. zehn Jahre nach seinem Tod – von P. A. Samuelson aufgegriffen und in exponentieller Form als geometrische Brownsche Bewegung zur Beschreibung von Aktienkursen etabliert. Auch das in der Finanzwirtschaft benutzte Optionsbewertungsmodell von Black und Scholes geht davon aus, dass die Aktienpreisprozesse mit dem Bachelier-Modell modellierbar sind. Robert C. Merton revolutioniert anfangs der siebziger Jahre die Finanzmarkttheorie durch Einführung zeitstetiger stochastischer Prozesse – basierend auf den Erkenntnissen Bacheliers. Dies führt zu einem Durchbruch in diversen Bereichen der Finanzmärkte, u.a. bei der Portfolioselektion, beim Design dynamischer Hedging-Strategien sowie der Arbitragebewertung von Optionen.

Viele der heute üblichen Techniken im Bereich der modernen Finanztheorie wurden von Bachelier zum ersten Mal beschrieben. Seine Ideen wurden zum Leitprinzip für viele der Standardwerkzeuge im modernen Finanzwesen. Daher trägt die internationale finanzmathematische Gesellschaft zu seinen Ehren heute den Namen Bachelier Society.


"Die Wahrscheinlichkeitsberechnung kann zweifellos niemals auf die Aktivitäten des Marktes angewandt werden, und die Dynamik der Börse wird nie zu einer exakten Wissenschaft werden. Es ist aber möglich, den Zustand des Marktes in einem bestimmten Augenblick mathematisch zu untersuchen – das heisst, die Gesetze der Wahrscheinlichkeit von Kursänderungen so zu formulieren, die der Markt in diesem Moment diktiert."

 

[Autor: Frank Romeike, Chefredakteur RISIKO MANAGER und geschäftsführender Gesellschafter RiskNET GmbH]


Literaturhinweise:

Bachelier, L. (1900): Théorie de la Spéculation, Annales Scientifiques de l’Ecole Normale Supérieure, 3rd. Ser. 17, 21-88. (Translated in: The Random Character of Stock Market Prices, edited by Paul Cootner (1964), Cambridge/Massachusetts).

Bachelier, L./Samuelson, P. A./Davis, M.  et al. (2006): Louis Bachelier's Theory of Speculation: The Origins of Modern Finance, Princeton NJ 2006.

De Bondt, W./Thaler, R. (1985): Does the Stock Market Overreact?, in:  Journal of Finance, 40, S.  793-805.

Mandelbrot, B. B./Hudson, R. L. (2004): The (mis)Behavior of Markets – A Fractal View of Risk, Ruin and Reward, New York 2004.

RiskNET Glossar: Bearbeitungsstand: 4.Oktober 2007, URL:

www.risknet.de/Glossar.93.0.html

(Abgerufen: 4. Oktober 2007)

Romeike, F. (2007): William Forsyth Sharpe, in: RISIKO MANAGER, Ausgabe 9/2007, Seite 18-19.

Samuelson, P. A. (1965): Rational theory of warrent pricing. Industrial Managment Review 6, S. 13-32.

Romeike, F. (2007): Harry Max Markowitz, in: RISIKO MANAGER, Ausgabe 8/2007, Seite 22-23.

Romeike, F. (2007): Louis Bachelier (Köpfe der Risk-Community), in: RISIKO MANAGER, Ausgabe 21/2007, Seite 24-26.


[Bildquelle oben: iStockPhoto]

Kommentare zu diesem Beitrag

Marcus /19.08.2009 09:09
Klasse Beitrag ... bitte mehr von diesen Portraits!

Eigentlich eine Frechheit, dass Paul Anthony Samuelson, Myron Samuel Scholes, Robert Carhart Merton & Co den Wirtschaftsnobelpreis (korrekt eigentlich "Preis für Wirtschaftswissenschaften der schwedischen Reichsbank in Gedenken an Alfred Nobel") erhalten haben und Louis Bachelier jeglicher Ruhm zu Lebzeiten vorenthalten blieb ... ;-(
Jim Knopf /20.08.2009 09:56
Gegenüber 1900 hat sich nicht viel geändert. Auch heute wird auf Außenseiter und Querdenker nur viel zu selten gehört. Die Warnungen vor der Subprime-Systemkrise kamen vor allem von Außenseitern und Querdenkern. Die bekommen jedoch höchst selten einen Nobelpreis und ziehen sich dann irgendwann frustriert zurück.

So weist beispielsweise Benoit Mandelbrot seit Jahrzehnten die Banker darauf hin, dass sie in ihren Modellen wesentliche Risiken (vor allem systemische Risiken und Extremereignisse) ausblenden. Seiner Ansicht nach sollten die Risikomodelle durch fraktale Modelle ersetzt werden, die ein völlig anderes Erklärungsmuster nutzen. Vgl. auch: http://www.risknet.de/index.php?RDCT=3e5b2f8d32a5cb5dddd1

So kritisiert Mandelbrot seit Jahrzehnten die beliebten GARCH-Modelle und die Black-Scholes-Formel zur Bewertung von Optionen. "Wenn jemand ein Schiff baut, interessiert ihn nicht, wann genau der nächste Sturm kommt. Er baut das Schiff so, dass es jeden denkbaren Sturm überlebt." Die Risikomodelle der Banken berücksichtigen diese Erkenntnis leider nicht!
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