Ein Blick in die Zukunft

Prognosemärkte: Die Weisheit der Vielen


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Einerseits: Prognosen, Planung und Budgetierung sind wichtig. Als Steuerungsinstrumente und Elemente des Risikomanagements sind sie nicht mehr wegzudenken. Mehr noch: an der kurz- und mittelfristigen Absatzprognose hängt letztlich die gesamte betriebswirtschaftliche Ausrichtung des Unternehmens, von der Produktionsplanung, über die Ressourcenplanung (Einkauf, Investition, Personal) bis hin zu Finanzen. Andererseits: Die Abwesenheit von Stabilität – das ist die neue Normalität. Diese Quintessenz aus den Erfahrungen der letzten Jahre in Finanz- und Realwirtschaft zeigt, dass die klassische Prognosetechnik und Geschäftsplanung an ihre Grenzen stößt. Mehr noch: auch und gerade dort, wo Märkte vergleichsweise stabil erscheinen, offenbaren Planung und Budgetierung Schwächen. Als bürokratische Instrumente gehen sie den Weg allen Bürokratischen: sie breiten sich aus und drohen zum Selbstzweck zu werden, ohne die eigentliche Steuerungswirkung noch zu entfalten.

Dilemma für das Risikomanagement und die Planung

Klassische Prognoseverfahren, Planung und Risikomanagement stecken also in einem Dilemma. Dies betrifft nicht nur Konzerne, sondern reicht weit in den Mittelstand hinein. Die Aufgabe lautet, komplexe Situationen plan- und steuerbar zu halten, mindestens aber, die bisherige Prognose und Planung zu beleben. Hier nun kommen Prognosemärkte ins Spiel (synonym: elektronischer Prognosemarkt (EPM), Zukunftsbörse, Zukunftsmarkt, Informationsmarkt).
Ein Prognosemarkt ist ein virtueller Handelsplatz, eine Börse, zur Voraussage ungewisser Ereignisse, beispielsweise geschossene Tore in einem Fußballspiel, Absatzmenge Q1/2012 oder Fertigstellungstermin des wichtigsten Investitionsprojektes in der Firmengeschichte.

Die Grundideen eines Prognosemarktes sind einfach:

  • Das ungewisse, in der Zukunft liegende Ereignis ist ein handelbares "Wertpapier". Dies mag ungewöhnlich klingen, aber prüfen Sie bitte einmal, was eine Siemens-Aktie eigentlich ist.
  • Der "Marktpreis" des Wertpapiers bündelt zu jedem Zeitpunkt alle verfügbaren Informationen der Marktteilnehmer. Der Endpreis ist die Prognose ("price provides prediction").

Die Teilnehmer "handeln" ihre Einschätzungen während eines begrenzten Zeitraums, beispielsweise in den drei Monate vor dem Finale der Fußball-WM (vgl. Abbildung) oder fünf Arbeitstage lang. Das Motto ist simpel: billig kaufen, teuer verkaufen. Kauf oder Verkauf finden statt, weil der Teilnehmer den aktuellen Marktpreis vor dem Hintergrund seines eigenen Wissens, seiner Erfahrung, seines Bauchgefühls, seiner "hidden information" für falsch hält.

  • zu niedrig = Schnäppchen = kaufen!
  • zu hoch = Gewinn einstreichen = verkaufen!

Darin liegt die Chance und der Anreiz zum Mitmachen, also zur Preisgabe der eigenen Einschätzung und des eigenen Wissens. Dadurch ergibt sich zugleich die laufende Verbesserung der Vorhersage, wobei wie dargestellt gilt: "Price provides prediction".

Nach Ablauf des Handelszeitraums erhalten die Teilnehmer eine Auszahlung, gekoppelt an den tatsächlichen Ausgang des bewerteten Ereignisses (Fußballweltmeister 2014, kumulierte Absatzmenge bis 31. März 2012, Einweihungstag des Produktionsstandortes unter Teilnahme des Ministerpräsidenten). Derjenige Teilnehmer, dessen Prognose dem tatsächlichen Ausgang am nächsten kommt, erzielt den höchsten Profit. Er ist der Sieger. Sein Wissen oder seine Intuition hat das der anderen erkennbar übertroffen.

Der Teilnehmerkreis ist bei öffentlichen Prognosemärkten, beispielsweise Fußball-WM, im Prinzip unlimitiert.

Abbildung: Prognosemarkt: Wer wird Europameister 2008?
Abbildung: Prognosemarkt: Wer wird Europameister 2008?


Mindestens 15 Teilnehmer

Im Fall unternehmensinterner Prognosemärkte nehmen ausgewählte Mitarbeiter teil. Sie müssen nicht zwingend Experten für den Prognosegegenstand sein, sie sollten jedoch über ein Grundverständnis und eigene Beobachtungen verfügen. Die Frage nach der Mindestteilnehmerzahl lässt sich mit rund 15 beantworten.

Technisch finden Prognosemärkte auf virtuellen Marktplattformen und häufig web-basiert statt. Das Kaufen und Verkaufen erfolgt in aller Regel nicht mit echtem Geld, sondern mit virtuellem "Spielgeld".

Das Einsatzspektrum von Prognosemärkten ist mittlerweile sehr breit und nicht auf die Wirtschaft beschränkt. Ganz im Gegenteil hatten Prognosemärkte ihren Ursprung in der Vorhersage von Wahlergebnissen. Deren beeindruckende Präzision machte Ende der 1980er Jahre erstmals auf dieses neue Instrument und seine Leistungsfähigkeit aufmerksam.

Der Klassiker unter den Prognosemärkten ist deshalb der Iowa Electronic Market IEM (auch Iowa Presidential Stock Market). Er wurde 1988 an der Universität von Iowa etabliert und ist seitdem immer wieder Gegenstand intensiver wissenschaftlicher und publizistischer Bewertung. Während der US-Präsidentschaftswahlen 1988 wurde das Wahlergebnis zwischen George Bush Sr. und Michael Dukakis von den Teilnehmern (überwiegend  Studenten) mit nahezu 100 Prozent Genauigkeit vorausgesagt. Dies übertraf die Vorhersagen der renommierten Meinungsforschungsinstitute deutlich. Seitdem werden alle nachfolgenden Präsidentschafts- und Kongresswahlen sowie viele Wahlen im Ausland mit erstaunlicher Präzision prognostiziert. "As a predictor, the Iowa Electronic Markets have done better than professional polling organizations like Gallup." [vgl. Sunstein 2004]

Breites Anwendungsspektrum

Seither erobert das Instrument schrittweise seinen Platz auch in der Prognose- und Planungslandschaft von Unternehmen. Die Vorhersage beispielsweise von Produktqualitäten, die Wirksamkeit neuer Medikamente, Absatz- und Umsatzzahlen, Projektlaufzeiten. Das Anwendungsspektrum ist breit und es vergrößert sich laufend. Zum Beispiel gewinnt das Instrument zunehmend an Relevanz für die Auswahl von Produktideen und Innovationen.

Google nutzt seit dem Jahr 2006 eine der größten internen Prognosemarkt-Plattformen weltweit. Ziel sind beispielsweise Voraussagen zu Marktchancen neuer Produkte und zur Schaffung neuer Standorte. Demnach haben in den ersten drei Jahren über 20 Prozent der Google-Mitarbeiter an mehr als 100 Onlinemärkten teilgenommen. Es wurden über 350 Ereignisse in 40 Themengebieten erfolgreich zur Abstimmung gestellt. "We find that prices in Google’s markets closely approximated event probabilities." [vgl. Cowgill et. 2009, S. 19]

Hewlett Packard prognostiziert seit Jahren Verkaufszahlen, beispielsweise von Druckern und zwar erheblich präziser als mit den üblichen vom Unternehmen benutzten Prognosemethoden [vgl. Chen/Plott 2002].

Microsoft startet seit dem Jahr 2004 jährlich 7 bis 10 interne Prognosemärkte.  Man sieht diese Methode als konkurrenzlos um zentrale Absatzziele zu prognostizieren: "There is no other established forecasting mechanism."
Prognosemärkte sind jedoch längst kein angelsächsisches Phänomen mehr. Im Deutschland finden sich seit einigen Jahren zunehmend Anwendungen, die über die typischen Start-Applikationen (Wahlbörsen, Wettspiele) hinaus gehen. Konzerne wie Lufthansa, Telekom und Münchner Rück setzen Prognosemärkte ein. Das gleiche gilt für den Mittelstand, beispielsweise Zeppelin, Carl Zeiss, Bogner und Tchibo.

Zum Abschluss soll hier skizziert werden, wie bzw. warum Prognosemärkte überhaupt funktionieren. Drei Mechanismen wirken hier zusammen.

  1. Die Weisheit der Vielen (crowd intelligence). Angefangen hat alles recht banal und vor langer Zeit auf dem Viehmarkt des Jahres 1906 in Plymouth/England. Damals stolperte der britische Gelehrte Francis Galton, ein Cousin Darwins, über eine schlichte aber nachhaltige Wahrheit: "Unter den richtigen Umständen sind Gruppen von Menschen bemerkenswert intelligent – und oft klüger als die Gescheitesten in ihrer Mitte." Auslöser war die berühmte Ochsenwette, ein Wettbewerb zum Schätzen des Schlachtgewichtes eines Ochsen. Am Wettspiel nahmen rund 800 Marktbesucher teil, "Insider" wie Metzger und Viehzüchter, aber genauso auch Laien, wie Büroangestellte ohne jedes Fachwissen über Hornvieh. Galton nutze die Ochsenwette zu einem Spontanexperiment: Wie nah an der Realität würden die abgegebenen Schätzungen liegen? Galtons Vermutung war eindeutig: "Die Mischung aus ein paar extrem kundigen Personen, etlichen mittelmäßigen und einem Haufen dumpfer Individuen müsste ein entsprechend unsinniges Ergebnis zeitigen" [vgl. Surowiecki 2007, S. 9 f.]. Er sollte irren. Die Ausstellungsbesucher hatten den Ochsen durchschnittlich auf 1197 englische Pfund geschätzt, das geschlachtete Tier wog 1198 Pfund. Die Weisheit der Vielen war entdeckt (synonym: wisdom of the crowds, crowd intelligence).Es sind einige einfache Regeln einzuhalten, um die Weisheit der Vielen zu nutzen. Prognosemärkte greifen diese Erkenntnis auf und aggregieren individuell unvollkommene Urteile zur überlegenen kollektiven Intelligenz.
  2. Märkte und Marktpreise aggregieren Informationen. Nach dem österreichischen Ökonomen und Nobelpreisträger Hayek führt Wettbewerb zu einer effektiven Aggregation asymmetrischer Informationen, schafft Anreize für den Einzelnen zur weiteren Informationsbeschaffung und lenkt dessen Handlungen durch Preisbildung in sinnvolle Bahnen [vgl. Beckmann/Werding 1994, S. 4). Prognosemärkte nutzen dies und bündeln die Einzelmeinungen der Teilnehmer - wie der Name schon sagt - mittels eines Marktmechanismus.
  3. Vernetzung und kollaboratives Internet (Web 2.0). Sie haben die technische Voraussetzung geschaffen, so dass Teilnehmer heute von beliebigen Orten aus zu einem Prognosemarkt beitragen können. Prognosemärkte als Kombination dieser drei Mechanismen sind zu einem  neuen, sehr effizienten Verfahren geworden. "Prediction markets are definitely powerful new tools for measuring things that might seem impossible to measure.” [Hubbard 2010]


Autor:

Dr. Rainer Vinkemeier ist Geschäftsführer der C21 Consulting GmbH mit Sitz in Wiesbaden.


Tagesforum 2012: Die Weisheit der Vielen durch Prognosemärkte für Managemententscheidungen nutzen


Prognosemärkte sind das Fokusthema des Tagesforums 2012 "Zukunftsorientierte Steuerung".

Das Tagesforum wird jährlich von der TU Hamburg-Harburg, Institut für Controlling und Rechnungswesen, zusammen mit C21 Consulting, Wiesbaden, zu einem aktuellen Thema durchgeführt.

Prognosemärkte werden in Wissenschaft und Praxis derzeit stark diskutiert, ohne dass in Deutschland bereits ein einheitliches Bild der Möglichkeiten und Grenzen entstanden ist. Hier leistet das Tagesforum einen Beitrag, indem erstklassige Referenten aus Wissenschaft und Praxis (Lufthansa AG, Deutsche Telekom AG, Zeppelin-Gruppe u. a.) Prognosemärkte erklären und ihre Erfahrungen weitergeben.
Das Tagesforum 2012 findet am 23. März 2012 in Hamburg statt. Weitere Informationen finden Sie unter www.cur.tu-harburg.de/de/tagesforum-2012



Quellenverzeichnis sowie weiterführende Literaturhinweise:


Beckmann, K./M. Werding (1994): Markets and the Use of Knowledge. Testing the "Hayek hypothesis” in Experimental Stock Markets, Passau 1994.

Cowgill, B. et. al.: Prediction Markets to Track Information Flows - Evidence from Google, 2009.

Chen, K.-Y./Plott, C. R. (2002): Information Aggregation Mechanisms. Concept, Design and Implementation for a Sales Forecasting Problem, Pasadena 2002.

Hage, S./Müller, H.: Auf schmalem Brett, in: Manager Magazin  8/2010, S. 71.

Hubbard, D. (2010): How to measure Anything. Finding the Value of "Intangibles" in Business, New Jersey 2010.

Sunstein, C. R. (2004): Group Judgments: Deliberation. Statistical Means, and Information Markets. Chicago 2004.

Surowiecki, J. (2007): Die Weisheit der Vielen, München 2007.



[Bildquelle oben: iStockPhoto]

Kommentare zu diesem Beitrag

Jo /01.12.2011 19:23
Exzellenter Text ... Glueckwunsch
Renee` /06.12.2011 17:29
Endlich mal ein Artikel, der die Möglichkeiten von Prognosemärkten im Business-Umfeld darstellt. Nicht immer nur Gaming!
Susa /07.12.2011 08:41
Herzlichen Glückwunsch, eingängige Formulierungen und businessorientiertes Denken! Ich hoffe, davon wird noch mehr veröffentlicht!
Susa /07.12.2011 08:43
Sorry, Bewertung wurde falsch abgegeben - 5 Sterne!!!
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