Interview mit Dr. Werner Gleißner

Denkfehler und Unsinnigkeiten im Risikomanagement


Denkfehler und Unsinnigkeiten im Risikomanagement: Interview mit Dr. Werner Gleißner Interview

Böse Überraschungen gibt es nur dann, wenn diejenigen, die den Durchblick haben sollten, einen vorab nicht über mögliche Hindernisse und Gefahren informieren. Doch was in der Fliegerei zur Grundausbildung von Piloten und Kopiloten gehört, scheint in der Wirtschaft in Vergessenheit geraten zu sein: Das Niveau vieler Vorstandspräsentationen oder Entscheidungsvorlagen ist mitunter so niedrig, dass einem, was die Qualität der strategischen Planung vieler Unternehmen angeht, bange werden kann. Der Gleichmut jener, die auf Basis dieser Vorlagen Entscheidungen treffen sollen, ist erschreckend. Auch das Controlling wirkt in diesem Zusammenhang nicht regulierend, da Entscheidungsvorbereitung nun mal etwas vollkommen anderes ist als Datenbereitstellung und eine systematische, risikogerechte Bewertung von Handlungsoptionen – ausgehend von transparenten Annahmen – erfordert.


RiskNET Redaktion:
In dem Artikel "Für Kinder, Laien und Vorstände" im Harvard Business Manager kritisieren Sie, dass sich in deutschen Führungsetagen ein Trend zur Vereinfachung breitmacht. Vorstandsvorlagen sind methodisch und analytisch auf niedrigem Niveau. Das kann zu fatalen Fehlern führen. Welche methodischen Schwächen sehen Sie konkret?

Werner Gleißner: Natürlich sind nicht alle Entscheidungsvorlagen oder Gutachten, die Vorständen und Aufsichtsräten vorgelegt werden, auf methodisch und analytisch niedrigem Niveau oder zu stark vereinfacht. Aber in leider viel zu vielen Fällen ist dies der Fall und kann zu schwerwiegenden, an sich leicht vermeidbaren Fehlentscheidungen führen. Was ich kritisiere, ist, dass zu oft Entscheidungsvorlagen primär unter der Zielsetzung der Akzeptanz beim Vorstand erstellt werden – und eben nicht mit der Zielsetzung eine transparente, auf nachvollziehbare Annahmen basierende fundierte Entscheidungsvorlage zu erzeugen. Leider gilt hier als Erfolgsrezept, auf scheinbar komplizierte Methoden und Mathematik zu verzichten und dafür lieber schöne Grafiken zu verwenden und insgesamt möglichst zu vereinfachen. Dabei ist grundsätzlich gegen eine angemessen Vereinfachung nichts einzuwenden.

Problematisch ist jedoch, wenn unangemessen vereinfacht wird und eine möglichst einfache, eingängige Darstellung sogar zum Selbstzweck wird. Unangemessene Vereinfachungen führen zu den angesprochenen methodischen Schwächen. Zu nennen sind beispielsweise die Verwendung von "wahrscheinlichsten" Planwerten anstelle der notwendigen Erwartungswerte, die unter Berücksichtigung von Chancen und Gefahren (Risiken) zu berechnen sind, Intransparenz bezüglich Annahmen und die Nutzung von nicht sachgerechten Modellen, beispielsweise des Capital Asset Pricing Models (CAPM), sowie eine fehlende Beurteilung der Implikationen einer Entscheidung auch aus Perspektive der Gläubiger, was eine Einschätzung des zukünftigen Ratings erfordert.

RiskNET Redaktion:Nach der jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise müssen die Fähigkeiten eines Großteils der börsennotierten Aktiengesellschaften im Umgang mit Risiken mehr denn je in Frage gestellt werden. Wieso halten sich dennoch methodische Ansätze – wie etwas das Capital Asset Pricing Model (CAPM) so hartnäckig in der Praxis, obwohl die Empirie und bewiesen hat, dass die Ansätze falsch sind?

Werner Gleißner: Aus fachlicher Sicht ist es natürlich schon ein Witz, dass in der Praxis und weiten Teilen des Schrifttums noch immer an der Fiktion vollkommener Märkte, und speziell dem CAPM festgehalten wird. Niemand bestreitet ernsthaft, dass alle wesentlichen Annahmen des CAPM unhaltbar sind. Und seit rund 20 Jahren zeigt die empirische Forschung einheitlich, dass mit dem Betafaktor des CAPM weder erwartete noch realisierte Aktienrenditen erklärt werden können. Um dies etwas zu verschleiern, findet man in Fachtexten zu "kapitalmarktorientierte Bewertungen" interessanterweise praktisch keine Verweise auf die empirische Kapitalmarktforschung.

Die Verwendung des CAPM ergibt sich nicht aus unserem Wissensstand, sondern aus der Interessenslage. Grundsätzlich tut man sich in der Betriebswirtschaft, anders als in anderen Wissenschaften, schwer, neue Erkenntnisse zu nutzen und Methoden weiter zu entwickeln. Weiterbildung und Weiterentwicklung von Methodiken kostet Arbeitszeit und Betriebswirte haben, im Gegensatz beispielsweise zu Naturwissenschaftlern, Informatikern oder Ingenieuren, in der Regel kaum Arbeitszeit frei, um sich fachlich mit neuen Entwicklungen zu befassen. Zudem sieht man es in vielen Unternehmen als Teil des "persönlichen Risikomanagements" – unabhängig von der Eignung – einfach die Instrumente (wie das CAPM) zu verwenden, die schon möglichst lang von möglichst vielen anderen Unternehmen verwendet werden. Wenn dann etwas schief geht, wie in der letzten Wirtschafts-und Finanzkrise, haben ja fast alle den gleichen Fehler gemacht.

Und schließlich haben auch die Beratungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften wenig Interesse daran, Methoden, die man vor einigen Jahren erst Mandanten (etwa im Kontext von EVA-Konzepten) oder Richtern (bei der Bewertung von Squeeze-Out-Fällen) "verkauft" hat, nun wegen eines, an sich unbestreitbaren Fortschritts schon wieder in Frage zu stellen. Teilweise wird sogar befürchtet, dass man bei einem Bewertungsgutachten, das vor einigen Jahren erstellt wurde, Haftungsprobleme bekommen könnte. Man muss dann beispielsweise erklären, warum man in der Vergangenheit das Rating oder die Insolvenzwahrscheinlichkeit im Bewertungskalkül nicht berücksichtigt hat, wenn auf dessen Bedeutung in einer neuen Version des Bewertungsstandards (wie gerade in Österreich) ausdrücklich hingewiesen wird. Es besteht ein großes Interesse daran, einen möglichst einheitlichen und möglichst zeitlich wenig veränderlichen Standard anzuwenden, um Akzeptanz beispielsweise bei Richtern zu erhalten, auch wenn dies betriebswirtschaftlichen-methodischen Fortschritt "ausbremst".

RiskNET Redaktion:Ergibt sich nicht ein interessantes Tätigkeitsfeld für Beratungsgesellschaften, wenn betriebswirtschaftliche methodische Defizite im Unternehmen bestehen?

Werner Gleißner: Leider nur sehr partiell. Wie Sie wissen, arbeite ich als Vorstand eines forschungsorientierten Unternehmens seit vielen Jahren intensiv zusammen mit den großen Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaften, speziell auch beim Aufbau neuer Geschäftsfelder.

Neben der Entwicklung des eigentlichen Leistungsangebots, gestützt auf aktuelle Erkenntnisse der betriebswirtschaftlichen Forschung und Entwicklung, war es dabei immer wichtig, die erarbeiteten Lösungen mandantengerecht aufzubereiten. Dies ist natürlich wichtig und nützlich. In etlichen Fällen – zum Glück nicht immer – mussten wir aber feststellen, dass die größte Wahrscheinlichkeit für den Akquisitionserfolg gesehen wird, wenn eine Leistung in fachlicher Hinsicht möglichst einfach erscheint und man andeutet, dass das Ergebnis der Beratung im Prinzip das bestätigt, was der Auftraggeber sowieso in etwa erwartet. Ein besonderes Hemmnis in der Akquisitionsphase ist leider oft der Verweis auf Instrumente und Methoden, die der Auftraggeber noch nicht kennt, und insbesondere jeder Verweis auf den Einsatz mathematischer Verfahren, die über Grundrechenarten hinausgehen. Ich habe es oft genug erlebt, dass schon eine simple algebraische Umformung oder ein Bruchstrich, eigentlich auch nur eine Division, Irritationen auslöst. Jeder Bezug auf Mathematik, der über Schulwissen der 8. Klasse hinausgeht, ist in manchen Unternehmen problematisch. Und natürlich ist auch der Vertreter einer Unternehmensberatung, das ist keinesfalls vorwurfsvoll gemeint, zunächst Verkäufer einer Beratungsleistung.

Ein erfahrener Partner einer großen Beratungs- und Prüfungsgesellschaft hat einmal plakativ, wenn auch mathematisch nicht ganz sauber, wie folgt formuliert: "Wir suchen für unsere Mandanten nicht die beste Lösung. Sondern den dümmsten gemeinsamen Nenner." Dies ist sicherlich überspitzt und zum Glück nicht überall die Einstellung. Aber ähnlich wie im Umgang mit Bankberatern berücksichtigen viele Entscheider in Unternehmen nicht im erforderlichen Umfang den Sachverhalt, dass sie von Beratungs- und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften oft das angeboten bekommen, das am leichtesten verkaufbar erscheint.

RiskNET Redaktion:Und welchen Beitrag leisten die Hochschulen? Der Wissenstransfer in die Praxis ist doch eine ihrer originären Aufgaben?

Werner Gleißner: Auch hier gibt es erhebliche Einschränkungen. Im Zusammenhang mit der Umstellung auf die Bachelor- und Masterstudiengänge war oft angestrebt, Effizienz und Praxisorientierung der Studiengänge zu erhöhen. Was sich zunächst so positiv anhört, ist es tatsächlich nur mit Einschränkungen. Gerade Praxisorientierung wird oft falsch und zu eng ausgelegt. Wenn man als Praxisorientierung versteht, dass die Ausbildung der Hochschulen sich an der Nachfrage der Unternehmen orientieren, ist dies nicht uneingeschränkt positiv. Wie soll von Vertretern der Unternehmenspraxis etwas nachgefragt werden, was man gar nicht kennt? Anders als in den technischen und naturwissenschaftlichen Feldern gibt es im Unternehmen wenig Betriebswirtschaftsforschung und damit fehlt das Wissen, was nachgefragt werden sollte. Um beim Beispiel CAPM zu bleiben: In der Praxis wenden Unternehmensberatungsgesellschaften tatsächlich primär das CAPM im Rahmen der Unternehmensbewertung an. Es ist natürlich deshalb sinnvoll im Studium auf das CAPM einzugehen – mit all seinen Schwächen. Aber es ist natürlich auch sinnvoll, Entwicklungen der letzten Jahre ebenso aufzuzeigen und sicherzustellen, dass Studenten nicht wirklich an vollkommene Märkte glauben.

RiskNET Redaktion:Kann man hieraus ableiten, dass vielfach die falschen Köpfe am Steuerrad stehen? Das würde die These von Laurence J. Peter untermauern, die besagt, dass "in einer Hierarchie [...] jeder Beschäftigte dazu [neigt], bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen".

Werner Gleißner: Ich würde dies nicht so pauschal sagen. Ich habe auch viele fachlich kompetente Geschäftsführer und Vorstände kennengelernt, also solche mit hoher betriebswirtschaftlicher Kompetenz und der Fähigkeit, betriebswirtschaftliche Methoden auch kritisch zu hinterfragen. Und auch nicht jeder Geschäftsführer und Vorstand muss Spezialist für betriebswirtschaftliche Methoden sein und beispielsweise selbst die Fähigkeit haben, quantitative Risikoanalysen durchzuführen, eine Monte-Carlo-Simulation anzuwenden oder risikogerechte strategische Handlungsoptionen zu bewerten. Auch andere Fähigkeiten des Vorstands, beispielsweise im Bereich der Produktentwicklung, Führung, der Optimierung von Organisationsstrukturen und ähnliches sind natürlich wichtig.

Problematisch wird es jedoch, wenn kein Mitglied der Unternehmensführung über tiefe fachlich-methodische Kenntnisse verfügt – und hier reicht der teilweise schon vergessene Wissensstand aus einem betriebswirtschaftlichen Studium auch nicht aus. Und wenn im Vorstand und in Geschäftsführung niemand einen hohen betriebswirtschaftlich-methodischen Stand der Entscheidungsvorlagen oder des Steuerungsinstrumentariums fordert, ist auf der zweiten und dritten Führungsebene der Anreiz gering, in betriebswirtschaftlich-methodisches Spezial-Know-how zu investieren.

Besonders fatal wird die Situation, wenn die Geschäftsführung und Vorstandsentscheidungen vorbereitende Stellen, wie Controlling und Risikomanagement, den Eindruck gewinnen, Vorstandspräsentationen in einer Weise erstellen zu sollen, die ich mit Bezug auf ein entsprechendes Zitat als "kinder-, laien- und vorstandstauglich" bezeichnet habe. Schöne Bilder, eingängige Botschaften und ein möglichst hohes Maß an Bestätigung des ersten "Bauchgefühls" des Vorstands – anstelle nachvollziehbar abgeleiteter Schlussfolgerungen, ausgehend von transparent dargestellten Annahmen, Mathematik oder ein fundiertes, quantitatives Abwägen von Chancen und Gefahren (Risiken). Angebot und Nachfrage nach betriebswirtschaftlichem Know-how und Methodik stabilisiert sich so auf einem oft in Unternehmen leider sehr niedrigen Niveau.

RiskNET Redaktion: In den Medien konnte man in den vergangenen Jahren und Monaten immer wieder hören und lesen, dass die quantitativen Methoden und Modelle des Risikomanagement versagt hätten. Darf man das so stehen lassen? Oder waren es die falschen Modelle, die "KLV-tauglich" getrimmt wurden?

Werner Gleißner: Es wurde schon von verschiedenen Fachleuten darauf hingewiesen, dass nicht die Modelle versagt haben, sondern Menschen, die die Annahmen, Anwendungsbereiche und Limitierungen ihrer Modelle nicht verstehen – oder unangemessen vereinfachte Modelle nutzen. Man kann beispielsweise aus der Feststellung, dass bestimmte Doppeldecker vor hundert Jahren oft verunglückt sind, nicht folgern, dass Flugzeuge per se unsicher sind.

Genauso unsinnig ist eine analoge Schlussfolgerung für Modelle. Auch wegen der oben angesprochenen fachlichen Defizite und des zum Teil überraschend geringen Interesses vieler Führungskräfte an ihrem Steuerungsinstrumentarium dürften tatsächlich viele Modelle, wie von Ihnen vermutet, in unangemessener Weise auf "KLV-Tauglichkeit" getrimmt worden sein. Wenn ich bei der Quantifizierung des Risikos eines Portfolios, beispielsweise einer Bank, grundsätzlich normalverteilte Risiken annehme und die Unsicherheit in den geschätzten Modellparametern ignoriere, darf ich mich nicht wundern, wenn der berechnete Risikoumfang zu niedrig ist. Das Problem ist nicht, dass an sich das Wissen – beispielsweise über "Fat Tails" und Modellrisiken – fehlt. Das Problem besteht darin, dass das Wissen in der Praxis noch immer zu wenig genutzt wird.

RiskNET Redaktion:Was muss getan werden, damit das betriebswirtschaftliche Instrumentarium in den Unternehmen methodisch fundiert ausgerichtet wird?

Werner Gleißner: Es ist sicherlich hilfreich, wenn ein "betriebswirtschaftlicher Spezialist" im Unternehmen selbst Anstöße gibt, um Instrumente weiter zu entwickeln, beispielsweise um zu erreichen, dass bei Performancemanagement-Systemen (wie EVA) der Werttreiber "Kapitalkosten" in Abhängigkeit der aggregierten Unternehmensrisiken, und nicht der Aktienrenditeschwankungen, also des Betafaktors, berechnet wird. Meine Erfahrung zeigt allerdings, dass dies meist nicht ausreicht. Ansatzpunkt muss Geschäftsführung und Vorstand bzw. Aufsichtsrat des Unternehmens sein. Hier benötigt man einen Mentor, der gezielt betriebswirtschaftlich-methodische Fortschritte im Unternehmen realisieren möchte. Er muss dabei noch nicht einmal zwingend selber der Spezialist sein, sondern Anforderungen formulieren. Ein guter Ansatzpunkt kann die Entwicklung eines "Qualitätssicherungssystems für Entscheidungsvorlagen" sein, da durch dieses gewährleistet wird, dass definierte Mindestanforderungen bei der Vorbereitung von Entscheidungsvorlagen für die Unternehmensführung oder den Aufsichtsrat eingehalten werden. So wird beispielsweise durch ein derartiges System gewährleistet, dass Chancen und Risiken erfasst, die Auswirkungen für das zukünftige Rating berechnet und beispielsweise risikogerechte Kapitalkosten für eine Investition angegeben werden.

[Ein Beispiel für ein derartiges System steht als Download in einer Veröffentlichung für "Der Aufsichtsrat" zur Verfügung: Gleißner, W.: Risiko, Rating, Krisenprävention und wertorientiertes Management: Die Zusammenhänge, in: Der Aufsichtsrat, 07-08 / 2013, S. 114 – 116]


Entscheidend ist, dass durch das kritische Hinterfragen von Vorlagen, beispielsweise durch den Aufsichtsrat und die formulierten Mindestanforderungen, die das traditionelle Risikomanagement und Controlling ergänzen, ein Anstoß gegeben wird, um die Verfahren im Unternehmen insgesamt weiter zu entwickeln. Hohe Anforderungen an die Qualität der Entscheidungsvorlagen erfüllt man am ehesten, wenn das betriebswirtschaftliche Instrumentarium insgesamt weiter entwickelt wird. Und gute unternehmerische Entscheidungen sind letztlich wiederum maßgeblich für einen noch größeren unternehmerischen Erfolg bzw. die Absicherung bereits erreichter Erfolge.

RiskNET Redaktion:Welche Methoden und Instrumente werden im Risikomanagement künftig an Bedeutung gewinnen, welche Ansätze werden eher unwichtiger? Welche neuen und innovativen methodischen Ansätze zur Risikoanalyse zeichnen sich am Horizont ab? Wie wird sich das Verhältnis von quantitativen und qualitativen Ansätzen verändern?

Werner Gleißner: Die wichtigste Veränderung im Risikomanagement ist eine zunehmend entscheidungsorientierte Ausrichtung der Systeme, zumindest der Systeme, die tatsächlich ökonomischen Mehrwert bringen oder bringen sollen. Es ist im Prinzip auch simpel: Wenn mit den Informationen des Risikomanagements niemals eine Entscheidung von Vorstand und Geschäftsführung anders getroffen wird, also ohne eine Risikoanalyse, bringt das Risikomanagement nichts. Es geht bekanntlich zunächst darum, vor einer unternehmerischen Entscheidung Transparenz über das aktuelle Gesamtrisiko – und die Wirkungen einer möglichen Entscheidung für den zukünftigen Gesamtrisikoumfang – zu erhalten. Nur so ist überprüfbar, ob durch eine wichtige Entscheidung – Strategieänderung, Investition oder Akquisition – die Krisenanfälligkeit des Unternehmens sich kritisch erhöht. In Praxis bedeutet dies, dass durch Risikoanalyse und Risikoaggregation, also die Berechnung einer repräsentativen Anzahl risikobedingt möglicher Zukunftsszenarien, eine realistische Bandbreite des zukünftigen Ratings und der Eigenkapitalbedarf angegeben wird.

Notwendig, und leider oft noch nicht umgesetzt, ist es dabei, die Auswirkung von Risiken auf das Rating abzubilden, da eine "Bestandsbedrohung" faktisch eintritt, wenn Mindestanforderungen an das Rating in der Zukunft nicht mehr gewährleistet sind. Neben der Verknüpfung von Risikomanagement und Rating bzw. Finanzierung ist es zudem notwendig, Risikoinformationen in der Entscheidungsvorbereitung und der Bewertung von strategischen und operativen Handlungsoptionen zu nutzen. Dabei geht es nicht nur um eine risikogerechte Beurteilung operativer Maßnahmen und von Instrumenten des Risikotransfers, wie Versicherungen oder das Hedging von Zins-, Währungs- oder Rohstoffrisiken.

Notwendig ist die Berücksichtigung von Informationen über Chancen und Gefahren insbesondere bei strategischen Entscheidungen, was die Berücksichtigung von strategischen Risiken, also die Bedrohung von Erfolgspotenzialen, einschließt. Zentral ist dabei, dass die erwarteten Erträge und Risiken im Vorfeld unternehmerischer Entscheidungen nachvollziehbar und transparent bei einer risikogerechten Bewertung der bestehenden Handlungsoptionen berücksichtigt werden. Dies ist möglich, indem die Ergebnisse der Risikoaggregation, beispielsweise über die Bandreite der zukünftigen Cash-Flows, in einen risikogerechten Kapitalkostensatz, das heißt eine risikogerechte Anforderung an die Rendite, umgerechnet werden.

Interessanterweise sind es gerade diese Instrumente der Nutzung von Risikoinformationen, die in den Unternehmen besonders schwach entwickelt sind. Der überwiegende Anteil der Arbeitszeit wird verwendet auf die Identifikation, die Überwachung und das Reporting von Einzelrisiken. Die intelligente Auswertung vorhandener oder im Prinzip durch leicht ableitbare Informationen, wie beispielsweise den Eigenkapitalbedarf aus der Risikoaggregation, werden wenig genutzt. Und auch die Verknüpfung des Risikomanagements mit anderen bewährten Managementsystemen, wie Controlling oder Qualitätsmanagement, eröffnen noch vielfältige Potenziale für eine Effizienz- und Leistungssteigerung. Natürlich bleiben hier sowohl qualitative als auch quantitative Methoden wichtig.

Die wesentlichen Defizite bestehen jedoch klar im Bereich der quantitativen Verfahren. Dies liegt sicherlich auch an fehlenden fachlich-methodischen Spezialkenntnissen. Die quantitativen Verfahren erscheinen kompliziert, nur weil man damit keine Erfahrungen hat. Wesentliche Resultate des Risikomanagements sind aber quantitative Informationen, beispielsweise der in Euro ausgedrückte Eigenkapitalbedarf oder der Kapitalkostensatz oder die Wahrscheinlichkeit, Covenants zu verletzen. Bekanntlich drücken sich viele Unternehmen um die an sich durchgängig mögliche, und durch den IDW PS 340 auch geforderte, Quantifizierung aller wesentlichen Risiken.

Es wird zu oft ignoriert, dass grundsätzlich alle wesentlichen Risiken – und sei es auf Basis subjektiver Informationen – quantifiziert werden können, und auch quantifiziert werden sollten. Und wer ein Risiko scheinbar nicht quantifiziert und entsprechend mit ihm nicht weiter rechnet, ignoriert den schlichten Sachverhalt, dass er das Risiko eigentlich doch quantifiziert hat: Eben genau mit Null. Faktisch gibt es die Option, ein Risiko nicht zu quantifizieren, nicht.

RiskNET Redaktion:Was halten Sie von dem Ansatz eines Risiko-Accountings an der Stelle eines "Rückspiegelblicks"? Der US-Wissenschaftler Andrew Lo fordert bereits seit einiger Zeit ein zukunftsorientiertes Risiko-Accounting – nicht zu verwechseln mit der eher vergangenheitsorientierten "Risikobuchhaltung".

Werner Gleißner: Andrew Lo und eine zunehmende Anzahl weiterer innovativer Wissenschaftler, die sich von der Fiktion vollkommener Märkte verabschiedet haben, sensibilisieren für die Bedeutung gerade der zukünftigen Risiken. Bekanntlich ist ein Risiko die Möglichkeit der Abweichung von einem Plan- oder Zielwert. Alle für das Unternehmen wesentlichen, das heißt insbesondere entscheidungsrelevanten, Risiken sind zukünftige Risiken. Auch wenn der Begriff des zukunftsorientierten Risiko-Accounting relativ neu ist, ist es eigentlich seit 15 Jahren ein Anliegen der Risikomanagementsysteme, genau solche Informationen zu generieren. Die Vergangenheit dient nur dem Lernen. Die Abweichungsanalysen des Controllings zeigen Art und Umfang derjenigen Risiken, die sich in der Vergangenheit realisiert haben. Dies ist natürlich hilfreich, um Risiken zu identifizieren und zu quantifizieren. Aber für den Erfolg eines Unternehmens relevant werden solche Vergangenheitsanalysen nur, wenn sie in einer zukunftsorientierten Schätzung der Risiken einfließen und diese wiederum bei der fundierten Vorbereitung unternehmerischer Entscheidungen berücksichtigt werden.

RiskNET Redaktion:Welches sind Ihrer Meinung nach insgesamt die Modelle oder betriebswirtschaftlichen Methoden, die gerne in der Praxis verwendet werden, deren Nutzung aber erhebliche Schäden in Unternehmen oder gar in der Volkswirtschaft auslösen kann?

Werner Gleißner: Nach meiner Erfahrung gehören auf jeden Fall folgende Modelle und Verfahren dazu: Das Markowitz-Modell für die Berechnung optimaler Portfolien, das CAPM zur Ableitung von Kapitalkosten für Unternehmensbewertung und wertorientierter Unternehmenssteuerung sowie die Berechnung von Schadenserwartungswerten und das Varianz-Kovarianz-Modell zur Ermittlung des aggregierten Gesamtrisikoumfangs. Die Anwendung dieser Verfahren ist besonders problematisch, weil trotz aller theoretischer Eleganz die zugrundeliegenden Annahmen wenig mit der Realität zu tun haben, und die potenziell von diesen Modellen abhängigen Entscheidungen eine besondere Tragweite aufweisen.

Aktuell könnte man auch die primär auf Finanzkennzahlen basierenden Ratings deutscher Mittelstands-Bonds ergänzen. Wegen der nicht adäquaten Betrachtung der originären Unternehmensrisiken sind diese verzerrt und oft zu gut. Dies führt nicht nur zu Verlusten bei den Anlegern – und möglicherweise zum Kollaps des Markts für Mittelstands-Bonds im eigentlichen Sinn – sondern ist auch problematisch für die Unternehmen. Gute Ratings suggerieren einen falschen Grad an Sicherheit und beispielsweise Refinanzierungsrisiken am Ende der Bonds-Laufzeit werden überhaupt nicht betrachtet. In allen Fällen sind aber nicht die Modelle das primäre Problem, sondern das fehlende Verständnis für die Grenzen dieser Modelle und das mangelnde Engagement, die entsprechenden Verfahren zu verbessern.

RiskNET Redaktion:Und welches sind die wichtigsten internen Hemmnisse oder "Totschlagargumente", um die Weiterentwicklung der betriebswirtschaftlichen Instrumente zu verhindern?

Werner Gleißner: Da viele, wenn auch nicht alle Entwicklungen auch quantitative Verfahren erfordern, hört man oft: "Das kann man nicht quantifizieren". Das ist jedoch meist ein Märchen und die Aussage drückt lediglich aus, dass der Betreffende nicht weiß, wie man etwas quantifiziert. Will man Informationen, Risikoinformationen und andere für die fundierte und nachvollziehbare Vorbereitung wichtiger unternehmerischer Entscheidungen nutzen, dann ist es nicht notwendig, dass der gesamte Informations-Input objektiv ist. Eine durchgängige Objektivierung ist, im Gegensatz zur Transparenz, weder möglich noch notwendig. Eine Quantifizierung kann sich also durchaus auch auf subjektive, aber nachvollziehbare Expertenschätzungen stützen. Und es gilt der einfache und pragmatische Grundsatz: Grundlage der Entscheidungen sind die besten verfügbaren, oder leicht beschaffbaren Informationen, auch wenn diese eine subjektive Quantifizierung darstellen.

Außerdem hört man oft: "Das ist zu kompliziert". In aller Regel wird damit nur der Sachverhalt ausgedrückt, dass man die entsprechenden Methoden nicht ausreichend gut kennt, um sie anwenden zu können. Mir erscheint heute auch die Lösung fast jeder Differenzialgleichung kompliziert. Aber dies liegt nur daran, dass ich seit meinem Studium kaum mehr mit Differenzialgleichungen zu tun hatte und schlicht zu wenig von den Lösungsmethoden verstehe. Wer also auf eine zu hohe Kompliziertheit verweist, drückt damit in der Regel aus, dass er sich nicht gut genug damit auskennt – oder sich nicht zutraut, die Methoden seinem Vorgesetzten so zu erklären, dass dieser sie akzeptiert.

Schließlich hört man noch etwas weitergehend die Aussage: "Das geht nicht". Aber hier gilt im Grundsatz das oben Erläuterte. Es ist im Allgemeinen nämlich fast unmöglich zu zeigen, dass etwas nicht geht. Wer eine derartige Aussage ernsthaft äußert, drückt damit auch nur aus, dass er schlicht nicht weiß, wie es geht. Die Aussage erscheint für die eigene Reputation oft angemessener, als nach Personen zu suchen, die eine Lösung haben.

Insgesamt ist die Menge der in der Praxis der Unternehmen nicht gelösten Probleme sehr viel größer als die tatsächlich unlösbaren Probleme.

Dr. Werner Gleißner ist Vorstand der FutureValue Group AG.Dr. Werner Gleißner ist Vorstand der FutureValue Group AG.

Er ist Diplom Wirtschaftsingenieur und hat an der Universität Karlsruhe in Volkswirtschaftslehre promoviert. Seine Beratungsschwerpunkte liegen im Bereich Risikomanagement, Rating und Strategieentwicklung sowie in der Weiterentwicklung von Methoden der Risikoaggregation und der wertorientierten Unternehmenssteuerung.

Er nimmt u.a. Lehraufträge an der TU Dresden, der Universität Stuttgart und Hohenheim sowie an der European Business School wahr. Zudem ist er Vorstand des Bundesverbandes der Ratinganalysten und Ratingadvisor e.V. (BdRA) und im Beirat der Risk Management Association (RMA e.V.). Werner Gleißner ist Autor zahlreicher Fachbücher und Artikel.

Seine Forschungsschwerpunkte sind Bewertungs- und Entscheidungsverfahren bei Unsicherheit und unvollkommenen Kapitalmärkten. In diesem Kontext hat er spezielle Verfahren für die Bewertung und wertorientierte Steuerung von Beteiligungen von Konzernen und Private-Equity-Gesellschaften entwickelt und umgesetzt.




[Bildquelle oben: © Gina Sanders - Fotolia.com]

Kommentare zu diesem Beitrag

Judith /17.03.2014 13:34
Geniales Interview. Hier wird endlich mal der Finger in die Wunde gelegt. Es ist unglaublich, welche Unsinn im Risikomanagement der Unternehmen passiert. Wie will man damit eine Akzeptanz bei der Unternehmensführung oder auch im Aufsichtsrat erreichen? Leider fehlt da häufig die Methodenkompetenz bei den Risikomanagern ...
Jo /17.03.2014 18:35
Perfekt! Mehr davon. Werner Gleißner trifft den Nagel auf den Kopf. Chapeau!
Michael /17.03.2014 19:03
Neben den Aussagen "Das kann man nicht quantifizieren", "Das geht nicht" und "Das ist zu kompliziert" höre ich häufig den Kommentar "Das ist zu theoretisch". Theorie wird gleichgesetzt mit allem was über die vier Grundrechenarten hinausgeht. Das ist manchmal sehr frustrierend, da es viele (wissenschaftlich) fundierte und methodisch saubere Methoden gibt, die aber viele Praktiker ablehnen. Werner Gleißner hat völlig Recht, wenn er sagt, dass die Anzahl der nicht gelösten Probleme sehr viel größer ist als die tatsächlich unlösbaren Probleme. Aber leider sind viele Lösungen - die beispielsweise die Wissenschaft oder auch andere Disziplinen erarbeitet haben - noch nicht bei den Praktikern angekommen.
Nada /18.03.2014 22:38
Das sind exakt die Denkfehler und Insinnigkeiten die ich in der Praxis sehe. Danke für die klaren Worte!
Werner /25.03.2014 19:37
Nachdem Vorstände und Geschäftsführungen normalerweise dazu da sind, vorausschauend Risikovorsorge zu betreiben um diese abzuwenden oder beherrschbar zu machen hat methodische Mangel bis zur bewussten Übervereinfachung eine eigene Dramatik in sich.

Prima Interview, trifft genau die tägliche Praxis !
Robert Rieg/01.05.2014 10:11
Herrvorragende Analyse: leider wird man mit solchen Argumenten scvhlauer, aber nicht unbedingt Umsatz machen. Traurig, traurig..
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