Die moderne Risikoforschung basiert auf einer zentralen Unterscheidung, die der US-amerikanische Ökonom Frank H. Knight (1885 – 1972) bereits im Jahr 1921 in seinem Werk "Risk, Uncertainty and Profit" getroffen hat. In einer zunehmend komplexen und dynamischen Welt ist es in Wirtschaft, Politik und Technik von grundlegender Bedeutung, diese Differenzierung zu verstehen: Was ist Risiko, was ist Unsicherheit und worin liegt die praktische Relevanz dieser Unterscheidung für heutige Entscheidungsprozesse?
Risiko: Quantifizierbare Unbekannte
Nach Knight liegt ein Risiko vor, wenn die möglichen zukünftigen Ereignisse zwar unsicher sind, ihre Eintrittswahrscheinlichkeiten bzw. -häufigkeiten jedoch bekannt oder zumindest (mit Hilfe stochastischer Methoden) schätzbar sind. Das bedeutet: Die Konsequenzen verschiedener Handlungsoptionen sind probabilistisch bewertbar. In einem solchen Kontext können mathematisch-statistische Methoden wie Erwartungswertberechnungen, Wahrscheinlichkeitsverteilungen oder stochastische Simulation (Monte-Carlo-Simulationen) zum Einsatz kommen [vgl. Knight 1921].
Im modernen Risikomanagement gehören beispielsweise die Risikomaße Value at Risk (VaR) und Expected Shortfall (ES) zu den zentralen quantitativen Instrumenten zur Bewertung von Risikoszenarien. Beide Modellierungsansätze zielen darauf ab, potenzielle Verluste in einem definierten Zeitraum unter Berücksichtigung eines Konfidenzniveaus zu quantifizieren – etwa im Rahmen von Markt-, Kredit- oder Liquiditätsrisiken.
Value at Risk (VaR) gibt an, wie hoch der potenzielle Verlust eines Portfolios mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit (beispielsweise 99 Prozent oder 99,5 Prozent) innerhalb eines bestimmten Zeitraums (beispielsweise 1 Tag oder 10 Tage) maximal sein wird. Beispielsweise bedeutet ein täglicher VaR von 1 Mio. Euro bei 99 Prozent Konfidenz, dass an 99 von 100 Tagen der Verlust diese Schwelle nicht überschreitet.
Expected Shortfall (ES) – auch Conditional VaR genannt – geht einen Schritt weiter: Er berechnet den durchschnittlichen Verlust in den schlimmsten x Prozent der Fälle (beispielsweise den Durchschnitt der schlechtesten ein Prozent der Szenarien). Damit überwindet ES eine zentrale Schwäche des VaR: Dieser sagt nichts darüber aus, wie hoch die Verluste über dem Schwellenwert tatsächlich sein können.
Ungewissheit: Nicht quantifizierbare Unbekannte
Im Gegensatz dazu beschreibt Knight Unsicherheit (englisch: "uncertainty") als Situationen, in denen die Eintrittswahrscheinlichkeiten der möglichen zukünftigen Ereignisse nicht bekannt oder abschätzbar sind. Es fehlen historische Daten oder stabile Modelle, um eine belastbare Wahrscheinlichkeitsverteilung zu konstruieren. Knight nennt dies "unmeasurable uncertainty" – also nicht messbare Ungewissheit [vgl. Knight 1921].
Ungewissheit tritt häufig in Bereichen auf, in denen radikale Innovationen, politische Brüche oder fundamentale gesellschaftliche Veränderungen möglich sind. Auch sogenannte "Black-Swan-Events" wie die COVID-19-Pandemie oder der plötzliche Kriegsausbruch in einer stabil geglaubten Region gehören in diese Kategorie. Entscheidungen unter Ungewissheit erfordern daher nicht nur Mut, sondern auch Methoden wie (deterministische) Szenarioanalyse, qualitative Expertenschätzungen oder adaptive Entscheidungsstrategien.
Praxisbeispiel: Nachhaltige Energieinfrastruktur
Ein aktuelles und gut nachvollziehbares Beispiel ist die Umstellung industrieller Prozesse auf Wasserstofftechnologie. Angenommen, ein Unternehmen möchte seine Energieversorgung auf grünen Wasserstoff umstellen. Hierbei kann das Unternehmen bestimmte Risiken quantifizieren, zum Beispiel die erwarteten Schwankungen der Wasserstoffpreise auf Basis historischer Marktdaten. Diese lassen sich in Preisrisikomodelle integrieren und mit stochastischen Methoden abbilden.
Ungewiss ist jedoch, ob sich Wasserstoff mittel- bis langfristig als führender Energieträger durchsetzt, wie sich geopolitische Rahmenbedingungen entwickeln oder ob technologische Alternativen (wie Batterietechnologien) den Markt dominieren werden. Diese Aspekte lassen sich nicht valide mit Wahrscheinlichkeiten belegen – sie liegen im Bereich der Ungewissheit. Derartige Szenarien ließen sich allerdings mit Hilfe einer Szenarioanalyse beschreiben.
Das Spiel mit der Angst
In einer zunehmend komplexen Welt müssen sich sowohl Wissenschaftler als auch politische Entscheidungsträger der fundamentalen Einsicht stellen, dass es kein sicheres Wissen über die Zukunft geben kann – sondern nur wohlbegründete, aber vorläufige Meinungen, Szenarien und Hypothesen. Diese epistemische Begrenzung ist keine Schwäche der Wissenschaft, sondern eine systemimmanente Eigenschaft offener, dynamischer Systeme. Gerade im Umgang mit zukünftigen Entwicklungen gilt: Risiko beginnt dort, wo Wissen endet – es markiert die Grenze der Kontrolle und verweist darauf, dass Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden müssen.
Vor diesem Hintergrund wird oft das "Precautionary Principle" (Vorsorgeprinzip) herangezogen – insbesondere bei weitreichenden Risiken wie dem Klimawandel oder in der Gentechnik. Es besagt, dass auch ohne abschließende wissenschaftliche Gewissheit gehandelt werden soll, wenn schwerwiegende oder irreversible Schäden drohen. Dieses Prinzip hat unbestritten eine wichtige Schutzfunktion: Es fordert eine Ethik der Vorsicht angesichts fundamentaler Nichtwissenheiten.
Doch gleichzeitig birgt das Vorsorgeprinzip ein paradoxes Risiko eigener Art: Wenn es absolut gesetzt und mit der Angst vor Katastrophen verknüpft wird, kann es jedes rationale Risikokalkül blockieren (siehe COVID-19-Pandemie oder die irrationalen Diskussionen um den Klimawandelt). Anstelle von Abwägung, Bewertung und kontrollierter Offenheit dominiert dann eine Haltung des präventiven Alarmismus. Gerade bei hochdynamischen Transformationsprozessen wie der Energiewende, der Digitalisierung oder der medizinischen Forschung kann das dazu führen, dass Innovationen ausgebremst oder Chancen nicht genutzt werden – aus Furcht vor einem hypothetischen Worst Case. So werden Worst-Case-Szenarien nicht selten als die apokalyptischen Wahrheiten verkauft.
Unsicherheit im Spannungsfeld von Planung und Unternehmertum
Frank Knight geht noch einen Schritt weiter, indem er Unsicherheit als eigentlichen Ursprung unternehmerischen Gewinns beschreibt. Während Risiko durch Versicherung oder Diversifikation gemildert werden kann, ist echte Unsicherheit das Feld, in dem unternehmerisches Handeln überhaupt erst relevant wird [vgl. Knight 1921]. Das bedeutet: Wer in einem Umfeld agiert, in dem keine sicheren Prognosen möglich sind, muss Entscheidungen auf Basis von Intuition, Überzeugung oder strategischer Vision treffen. Daraus können überdurchschnittliche Gewinne – oder fundamentale Verluste – resultieren.
Der Umgang mit echter Unsicherheit – also Situationen, in denen keine verlässlichen Wahrscheinlichkeiten für zukünftige Entwicklungen existieren – erfordert mehr als analytische Modelle oder historische Daten. Hier beginnt der Raum des unternehmerischen Handelns, wie ihn Joseph Schumpeter und Friedrich August von Hayek auf je eigene Weise beschrieben haben.
Schumpeter sieht im "Unternehmermoment" eine schöpferische Kraft: Der wahre Unternehmer handelt nicht unter Risiko, sondern unter Unsicherheit, weil er Neues schafft, das nicht prognostizierbar ist. Innovation – ob technologisch, organisatorisch oder marktlich – beruht auf der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, obwohl kein bestehendes Modell Orientierung gibt. Der Unternehmer ist damit Träger des wirtschaftlichen Wandels – nicht, weil er kalkuliert, sondern weil er gestaltet.
Hayek spricht in diesem Zusammenhang von "Findigkeit" (engl. alertness oder discovery): Die Fähigkeit, Gelegenheiten zu erkennen, die anderen verborgen bleiben – und darauf schnell und kreativ zu reagieren. In komplexen, dezentralen Systemen, so Hayek, entstehen wirtschaftliche Chancen oft aus lokalen, unvollständigen Informationen. Der unternehmerisch Findige navigiert Unsicherheit nicht durch Planung, sondern durch Aufmerksamkeit, Urteilsvermögen und Lernbereitschaft.
Diese theoretischen Konzepte lassen sich eindrucksvoll an aktuellen Beispielen beobachten:
- Elon Musk wagte mit Tesla den Aufbau eines Elektroautounternehmens in einem Markt, der von skeptischen Investoren, lückenhafter Ladeinfrastruktur und hohen Produktionsrisiken geprägt war. Seine unternehmerische Entscheidung erfolgte nicht unter kalkulierbarem Risiko, sondern unter radikaler Unsicherheit – heute hat Tesla eine marktverändernde Rolle eingenommen.
- Reed Hastings, Gründer von Netflix, stellte das Geschäftsmodell seines Unternehmens mehrfach radikal um – von DVD-Versand zu Streaming, von Lizenznehmer zu Produzent eigener Inhalte. Diese Schritte waren nicht durch sichere Prognosen motiviert, sondern durch das Gespür für kulturellen und technologischen Wandel.
- Gwynne Shotwell, Präsidentin von SpaceX, steuert ein Raumfahrtunternehmen, das jahrzehntelange staatliche Monopole herausfordert. Der Markt war vorher nicht nur unterreguliert, sondern weitgehend undefiniert – wirtschaftlich wie technologisch. SpaceX bewegt sich damit in einem Bereich tiefster Ungewissheit und gestaltet ihn aktiv.
Fazit und Ausblick
Die Differenzierung von Risiko und Ungewissheit nach Frank Knight bleibt eine grundlegende Erkenntnis der Entscheidungs- und Risikotheorie. Während Risiken durch Wahrscheinlichkeiten und Modelle greifbar gemacht werden können, bleiben uns viele zentrale Zukunftsfragen unternehmerischer, gesellschaftlicher und politischer Entscheidungen in einem Zustand tiefer Ungewissheit.
Wer frei von Risiken leben will, gewinnt keine Sicherheit, sondern opfert seine Freiheit. Freiheit ist nicht das Ergebnis von Sicherheit, sondern der Lohn für jene, die bereit sind, Verantwortung für ihr eigenes Schicksal zu übernehmen. Wer an die Freiheit glaubt, akzeptiert, dass sie keine Garantie auf Erfolg bietet – sondern lediglich die Möglichkeit, ihn aus eigener Kraft zu erlangen. Genau darin liegt der Kern des unternehmerischen Denkens: Nicht Absicherung, sondern Gestaltungswille unter Unsicherheit. Schon Joseph Schumpeter erkannte im Unternehmer denjenigen, der den Mut zum Neuen besitzt – als schöpferischen Akteur, der bestehende Pfade verlässt und durch Innovation gesellschaftlichen Wandel vorantreibt. Die Freiheit des Unternehmers besteht darin, Chancen zu erkennen, wo andere nur Risiken sehen.
Literatur:
- Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1986.
- Hayek, Friedrich A. von (1945): The Use of Knowledge in Society, in: The American Economic Review, Vol. 35, No. 4, S. 519–530.
- Knight, Frank H. (1921): Risk, Uncertainty and Profit, Houghton Mifflin Company, Boston 1921.
- Romeike, Frank / Stallinger, Stallinger (2021): Stochastische Szenariosimulation in der Unternehmenspraxis - Risikomodellierung, Fallstudien, Umsetzung in R, Springer Verlag, Wiesbaden 2021.
- Schumpeter, Joseph A. (1934): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, Duncker & Humblot, Berlin 1934 (Neuauflage 2006).
- Taleb, Nassim Nicholas (2007): The Black Swan: The Impact of the Highly Improbable, Random House, New York 2007.
- Willke, Helmut (2007): Systemisches Risikomanagement, Lucius & Lucius, Stuttgart 2007.