Interview mit Prof. Dr. Natalie Packham, Frankfurt School of Finance & Management

Verzerrte Wahrnehmung des Gesamtrisikos durch Modellrisiken


Verzerrte Wahrnehmung des Gesamtrisikos durch Modellrisiken: Interview Prof. Dr. Natalie Packham, Frankfurt School of Finance & Management News

Aus den Lehren der jüngsten Finanzkrise kann die zukünftige Rolle des Risikomanagements abgeleitet werden. Da das Geschäftsmodell von Banken und Versicherungen auf dem professionellen Management von Risiken basiert, werden in den nächsten Jahren Risikomanager ein reichhaltiges Betätigungsfeld finden. Der zunehmende regulatorische Druck wird diese Entwicklung noch zusätzlich befruchten.

Risikomanager werden zukünftig darauf hinweisen, wenn zwischen dem Willen, Renditechancen zu nutzen, und der Bereitschaft, Risiken vorausschauend einzuschätzen, ein Ungleichgewicht existiert. Risikomanager werden die Ampel auf "rot" stellen müssen, wenn ein Abwägen der erwarteten Rendite und der Risiken zum Ergebnis führt, dass das Grundprinzip einer wertorientierten (oder auch nutzenorientierten) Unternehmensführung verletzt wird.

Wir sprachen mit Natalie Packham, Juniorprofessorin für Quantitative Finance an der Frankfurt School of Finance & Management, über die Zukunft des Risikomanagements und die Rolle der Wissenschaft.

>> In der Realität der komplexen Finanzmärkte entstehen Risiken häufig durch nicht-lineare und chaotische Effekte. Bietet der klassische Werkzeugkasten des Risikomanagers überhaupt die passenden Instrumente um derartig komplexe Risikolandkarten zu bewerten?

<< Prof. Dr. Natalie Packham: Methodisch wurden im Risikomanagement in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte erzielt. War es in der Vergangenheit beispielsweise üblich, unverhältnismäßig einfache Modelle, etwa die Normalverteilung oder konstante Volatilitäten, anzunehmen, so hat die Methodenentwicklung hier deutlich aufgeholt und bietet heutzutage einen deutlich differenzierteren und realitätsnäheren Werkzeugkasten an. Hierzu gehören Heavy-Tailed-Verteilungen, die extremen Ereignissen mehr Wahrscheinlichkeit zuordnen als die Normalverteilung, Modelle mit variabler Volatilität, etwa GARCH-Prozesse, und die Abhängigkeitsmodellierung mittels sogenannter Copulas.

Allerdings ist die Umsetzung in der Praxis zögerlich, was unter anderem mit Herausforderungen, diese Methoden direkt in der hochdimensionalen Portfoliomodellierung anzuwenden, zusammenhängt. Die Entwicklung in der Risikoforschung bedeutet aber nicht, dass man alle methodischen Probleme gelöst hätte. Beispielsweise ist es heutzutage immer noch selbstverständlich anzunehmen, man hätte perfektes Wissen über die zugrundeliegenden Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Dabei ist der Einsatz von Modellen selbst mit Unsicherheit behaftet. Für eine realistische Risikobewertung müssen solche Modellrisiken genauso wie das zugrundeliegende Risiko – zum Beispiel Marktrisiko – berücksichtigt werden. Das Erfassen solcher Risiken und zugehörige Kapitalanforderungen werden derzeit von Regulatoren unter dem Stichwort "Prudent Valuation", also vorsichtige Bewertung, diskutiert.

>> In den Medien konnte man in den vergangenen Jahren und Monaten immer wieder hören und lesen, dass die Methoden und Modelle des Risikomanagement versagt hätten. Ist dies so?


<< Prof. Dr. Natalie Packham: Methoden und Modelle können immer nur Teil eines umfassenden Risikomanagement sein. Viele Modelle messen Risiko unter der Annahme, dass die Zukunft sich ähnlich – zumindest statistisch – wie die jüngere Vergangenheit verhält. In diesem Sinne erfassen Risikomanagementsysteme Risiken im "Normalzustand" und liefern keine Prognosen für unmittelbar bevorstehende strukturelle Veränderungen. Die kritische Beurteilung von Risikokennzahlen, insbesondere im Hinblick auf diese fehlende Zukunftsorientiertheit, obliegt daher stets dem Risikomanager. Dies bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass quantitatives Risikomanagement hinfällig ist, wie man in der Vergangenheit immer wieder gehört hat.

Die Portfolios von Finanzinstituten und die gehandelten Produkte sind heutzutage zu komplex, um die Risiken rein qualitativ zu bestimmen. Ein Risikomanager muss aber die Grenzen der eingesetzten Risikomesssysteme kennen und in einen größeren Kontext einordnen können. Basiswissen über die eingesetzten Methoden und Modelle ist daher für Risikomanager unerlässlich.

>> Welche Lehren hat die Wissenschaft aus der Finanzkrise gezogen und wie hat dies die Forschungsschwerpunkte des Lehrstuhls beeinflusst?

<< Prof. Dr. Natalie Packham: Die Finanzkrise hat die Forschung im Risikomanagement stärker auf ein ganzheitliches Risikomanagement und das Erfassen von Systemrisiken gelenkt. Vor der Finanzkrise nahm man an, das Aufsummieren individueller Risiken sei eine defensive Schätzung des Systemrisikos, da man hierbei Diversifikationseffekte vernachlässige. Daher hat man sich auf die Risikomessung individueller Finanzinstitutionen konzentriert. Nun wissen wir, dass die Stabilität des Finanzsystems vom Grad der Vernetzung zwischen den Marktteilnehmern abhängt und beispielsweise potenzielle Ansteckungseffekte über individuelle Risikomessung nicht erfasst werden. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind daher unter anderem die Entwicklung von Messmethoden für systemisches Risiko, Auswirkungen von Netzwerkeffekten auf die Stabilität des Finanzsystems und das Management von Counterparty-Risiken im OTC-Derivativegeschäft.

Dies spiegelt sich auch in verschiedenen neuen Regularien und Regulierungsvorschlägen wider, etwa in der Forderung nach Central Clearing, speziellen Kapitalanforderungen an systemisch relevante Finanzinstitute oder einem Trennbankensystem. Darüberhinaus haben wir gelernt, dass kurzfristig orientierte Anreizsysteme wesentlich zum Aufbau von systemischem Risiko beigetragen haben. In einer Publikation zeige ich mit meinen Ko-Autoren, dass die gängigen Anreizsysteme – hauptsächlich kurzfristig orientierte lineare Boni – nicht einmal im Sinne der Eigentümer einer Finanzinstitution sind, sondern eine Risikohäufung über das gewünschte Maß hinaus zur Folge haben.

Besonders spannend finde ich außerdem die Erforschung von robusten – also möglichst modellunabhängigen – Hedging-Methoden und das Bestimmen des Modellrisikos von Bewertungsmodellen, speziell für Derivatepositionen. Das Nichterfassen von Modellrisiken führt nicht nur zu einer verzerrten Wahrnehmung des Gesamtrisikos: für eine konsistente Messung des Gesamtrisikos und zur Vermeidung von Anreizkonflikten ist es unerlässlich, Modellrisiko mit denselben Risikomaßen wie Marktrisiko und Kreditrisiko zu messen und mit Kapitalanforderungen zu hinterlegen.

>> Haben sich die Inhalte in der Lehre in der Folge der Finanzkrise verändert?

<< Prof. Dr. Natalie Packham:
Insgesamt hat das Thema Risikomanagement heutzutage einen höheren Stellenwert in der Lehre als noch vor etwa sechs Jahren. An der Frankfurt School of Finance & Management bieten wir in Kooperation mit dem Frankfurter Institut für Risikomanagement und Regulierung (FIRM) zwei Master-Studiengänge im Bereich Risikomanagement an, welche einen hohen Zulauf und eine positive Resonanz haben. Aber auch außerhalb der Risikomanagement-Spezialisierungen verzeichne ich ein stärkeres Interesse von Seiten der Studierenden. Risikomanagement wird nicht mehr als eine Art Toolbox mit etablierten Messmethoden gesehen, die man "drauf haben" muss. In der Vorlesung diskutieren wir die Inhalte kritisch und loten gemeinsam die Grenzen der Risikomessung aus. Ich biete zudem eine Vorlesung über Risikomodellierung an, um den eingangs genannten Anspruch, dass jeder Risikomanager Grundkenntnisse über die Risikomodellierung und insbesondere die Grenzen der Risikomessung haben muss, zu erfüllen. Hier lernen die Studierenden, sich kritisch mit der Modellierung auseinanderzusetzen und auch unbequeme Fragen zu stellen. Die Beliebtheit dieser Vorlesung bestätigt, dass dies von den Studierenden als wichtiges Thema wahrgenommen wird.

>> Welche Herausforderungen des Risikomanagements schätzen Sie aus akademischer Sicht als dringend bzw. intellektuell herausfordernd ein?

<< Natalie Packham:
Derzeit befinden wir uns in einer Phase, in der Risikomanagement von regulatorischen Anforderungen dominiert ist. Die Neubewertung von Risiken führt zu einer Neuordnung der Bankenportfolios, was im Hinblick auf die jüngsten Finanzkrisen unerlässlich ist. Regulierung setzt aber auch immer Anreize und wir haben uns bislang zu wenig mit potentiellen Anreizproblemen der neuen Regularien beschäftigt. Was zunächst als vorsichtig im Sinne eines prudentiellen Risikomanagements verzeichnet wird, kann morgen zu unerwarteten Verlusten führen. Ein Beispiel: Im Sinne einer vorsichtigen Risikomessung mag es sinnvoll erscheinen, Diversifikationseffekte in Portfolios zu ignorieren oder sehr defensiv in die Risikobewertung eingehen zu lassen. Dies kann aber nicht nur zu unentdeckten Konzentrationsrisiken, sondern sogar zu expliziten Konzentrationsrisiken führen, was sicherlich nicht im Sinne der Regulatoren ist. Es ist also mittel- bis langfristig wünschenswert, dass Risikomanagement in Banken wieder stärker eine strategische Rolle einnimmt,  welches gleichzeitig den regulatorischen Anforderungen an ein stabiles Finanzsystem genügt.

Auf Modellierungsseite müssen wir in Zukunft ein umfassenderes Verständnis der eingesetzten Modelle entwickeln. Es geht nicht nur um die Frage, ob ein Modell geeignet für ein bestimmtes Portfolio oder für einen bestimmten Risikotyp ist. Es geht auch um die Frage, welche möglichen Seiteneffekte bei wichtigen Fragen der Risikomessung auftreten können. Woher wissen wir, dass das Resultat eines Stresstests tatsächlich sachlich sinnvoll ist und nicht nur ein Seiteneffekt eines Modells ist? In einer Arbeit untersuchen mein Ko-Autor und ich die Entwicklung von Korrelationen unter Stress in Industriestandardmodellen. Dies liefert wertvolle Hinweise auf die Interpretierbarkeit von Stresstest-Szenarien.

>> Wie muss eigentlich eine Praxis-Uni Kooperation ausgestaltet sein, um für beide Seiten einen Mehrwert zu bieten?

<< Natalie Packham: Aus Forschungssicht ist die Verzahnung zur Praxis unerlässlich. Schließlich handelt es sich um angewandte Forschung, die wertvolle Beiträge zur Ausgestaltung von stabilen Finanzsystemen liefern kann und soll. Gerade im Bereich Risikomanagement ist der Kontakt in die Industrie wertvoll, denn Praxispartner liefern Einblicke, wie Risikomanagementsysteme und -modelle in komplexen Umgebungen für Entscheidungen eingesetzt werden. Umgekehrt liefert die universitäre Forschung unabhängige und damit auch belastbare Forschungsergebnisse. Diese können dann etwa in Form von neuen oder besseren Modellen eingesetzt werden oder neue Erkenntnisse über bestehende Modelle liefern.


Natalie Packham ist Juniorprofessorin für Quantitative Finance an der Frankfurt School of Finance & Management.Natalie Packhamist Juniorprofessorin für Quantitative Finance an der Frankfurt School of Finance & Management. Sie schloß ihr Informatik-Studium an der Universität Bonn 2000 mit dem Diplom ab und erwarb 2005 zusätzlich einen Master-Abschluß mit Schwerpunkt Investment Banking an der Frankfurt School of Finance & Management.

2009 promovierte sie unter Betreuung von Professor Dr. Wolfgang M. Schmidt mit einer Arbeit über die Dynamik von Credit Spreads und über Varianzreduktionsverfahren zur Simulation abhängiger Zufallsvektoren. Sie verfügt außerdem über mehrjährige Berufserfahrung, u. a. als Senior Software Engineer im Front Office von Dresdner Kleinwort.

Seit Juni 2009 ist Natalie Packham Juniorprofessorin für Quantitative Finance. Zu ihren Forschungsinteressen gehören die Finanzmodellierung, Monte Carlo Methoden und quantitatives Risikomanagement. Ihre Forschungsergebnisse wurden u.a. in Mathematical Finance and Review of Finance veröffentlicht.

 

Eine Kurzfassung des Interviews finden Sie im FIRM-Teil der Zeitschrift RISIKO MANAGER (Ausgabe 20/2013).


[Bildquelle oben: © koya979 - Fotolia.com]

Kommentare zu diesem Beitrag

Peter /01.10.2013 21:27
Sehr gutes Interview. Der wichtigste Satz ist aus meiner Sicht: "Auf Modellierungsseite müssen wir in Zukunft ein umfassenderes Verständnis der eingesetzten Modelle entwickeln." Das ist allerdings ein steiniger und schwieriger Weg, da dies eine gewisse Methodenkompetenz voraussetzt, die nur in Grenzen in vielen Unternehmen vorhanden ist.
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