Interview

Solvency II als Risiko für die gesamte Versicherungswirtschaft


Solvency II als Risiko für die gesamte Versicherungswirtschaft Interview

Der so genannte "Sharma-Bericht" kam  bereits im Jahr 2002 zu dem Ergebnis, dass die Unternehmensführung die Hauptursache für die Insolvenz eines Versicherungsunternehmens sei. Durch den Bericht wurde deutlich, dass die bisherigen Risikomanagementsysteme in den Versicherungsunternehmen größtenteils unzureichend ausgestaltet sind. Außerdem wurde bemängelt, dass sich die aktuellen Regelungen zur Bestimmung der Solvabilität nach dem Geschäftsvolumen und nicht nach der wahren Risikostruktur des Versicherers richten. Das tatsächliche Risiko soll durch Solvency II tiefergehend untersucht werden und als Basis für die vom Versicherer vorzuhaltenden Eigenmittel gelten.

Der Bericht zeigt jedoch auch deutlich auf, dass Kapital nur die "zweite Verteidigungslinie" des Versicherungsunternehmens ist; die erste ist ein solides und adäquates Risikomanagement.

In diesem Kontext wird mit dem Reformprojekt "Solvency II" seit mehr als zehn Jahren an einem international anwendbaren von  Solvabilitätsvorschriften für die Eigenmittelausstattung von Versicherungsunternehmen gearbeitet. Ziel ist die Bestimmung des Risikokapitalbedarfs am tatsächlich eingegangenen Risiko zu orientieren. Damit verschiebt sich das quantitative Vorgehen der bisherigen Solvabilitätsrichtlinien in Deutschland hin zu einer ganzheitlichen, qualitativen Überprüfung der Risikoposition. Kernstück von Solvency II ist das sogenannte 3-Säulen-Konzept. Ziel der Säule I ist die Einführung risikobasierter Eigenmittelvorschriften. Ergänzt werden diese durch qualitative Anforderungen, die das aufsichtsrechtliche Überprüfungsverfahren konkretisieren (Säule II) sowie durch verstärkte Berichtspflichten (Säule III).


>> Welche Begriffe, Assoziationen oder Erwartungen fallen Ihnen ganz spontan zum Thema "Solvency II" ein?

Matthias Müller-Reichart: Angesichts eines 12-jährigen Prozesses schließen sich eigentlich die Begriffe "Solvency II" und "Spontaneität" gegenseitig aus. Assoziativ fallen mir dennoch die Begriffe "never-ending-story", "moving target", "organisatorische und intellektuelle Herausforderung", "Primat des Risikomanagements" sowie "Proportionalität" und "Marktkonsolidierung" ein. Damit ist der Assoziationsreigen wahrlich nicht erschöpft, verfolge ich doch das Thema seit über einem Jahrzehnt und habe somit jede Schattierung und Wendung miterlebt.

>> Die Umsetzung von Solvency II stellt einen Quantensprung für die Versicherungswirtschaft dar. Wie wird sich dieser Paradigmenwechsel auf die Branche auswirken?

Matthias Müller-Reichart: Der Quantensprung wird sich meines Erachtens lediglich auf interne Prozesse in Form von Risikomanagement und Internem Kontrollsystem (IKS) und eine umfangreiche, teilweise pervertierte Berichterstattung gegenüber Aufsicht, Share- und Stakeholder beziehen. Seitens zusätzlicher Kapitalausstattungsvolumina wird der Druck auf den Markt nach den letzten Omnibus II Abstimmungsergebnissen überschaubar bleiben. Selbst wenn die BaFin für die kommenden Jahre mit einer Kapitalaufstockung per anno von 3 bis 5 Mrd. Euro in der gesamten Versicherungswirtschaft rechnet (wobei sich dies in erster Linie auf die Lebensversicherungsunternehmen reduzieren wird), wird dies von der Branche zu stemmen sein.

Während ich den prozessualen, auf risikotheoretische Effizienzen bezogenen Paradigmenwechsel in Form des ORSA ("Own Risk and Solvency Assessment" respektive nach den Preparatory Guidelines dem "forward-looking assessment of their own risks", FLAOR) begrüße, sehe ich die veränderte Transparenz und Berichterstattung kritisch. Über die Säule 2 werden die Versicherungsunternehmen ein nachhaltiges Risikomanagement aufzubauen haben und dergestalt ein längst überfälliges Steuerungssystem in ihren Häusern implementieren. Wertorientierung bleibt via ORSA somit kein Lippenbekenntnis mehr, sondern muss gelebte Praxis darstellen.  Reziprok zur Säule 2 sehe ich in der erwarteten Berichterstattung der Säule 3 einen existenziellen Paradigmenwechsel der Branche, indem zahlreiche Unternehmen mit der von ihnen erwarteten Transparenz organisatorisch und somit kostentechnisch stranguliert werden. Kleine und mittlere Versicherungsunternehmen können nur auf die "Gnade der Proportionalität" hoffen, um diese Herausforderung zu überleben. Da zur Proportionalität noch keine klaren Vorgaben existieren, wird man hier auf das Augenmaß unserer Aufsichtsorgane vertrauen müssen.   

>> Gutes Stichwort: Nicht wenige Versicherer betrachten Solvency II eher als "regulatorisches Monster", das die Überregulierung des Versicherungssektors weiter verstärkt. Für andere stellen die neuen Vorgaben lediglich eine Angleichung an die ohnehin bestehenden Anforderungen des Kapitalmarkts bzgl. Information, Transparenz und Risikomanagement dar. Ist Solvency II ein Hemmschuh oder ein Werttreiber für die Assekuranz?

Matthias Müller-Reichart: Das Kerngeschäftsmodell der Versicherungswirtschaft ist gesund und hätte keiner zusätzlichen Regulierung bedurft. Auch wenn es sich bereits abgedroschen anhört, muss immer wieder betont werden, dass dieses Geschäftsmodell der Versicherungswirtschaft nicht der Auslöser für die Finanzmarktkrise war – allein die Anlagenverordnung hat die deutschen Versicherungsunternehmen vor derartigen Missständen bewahrt. Nichts desto trotz sieht sich die Versicherungswirtschaft dynamischen Marktveränderungen gegenüber, womit das ursprüngliche Modell langfristiger und homogener Entwicklungsstränge erodiert. Die internationale Niedrigzinspolitik entzieht den Versicherungsgarantien ihren Boden, veränderte Eintrittswahrscheinlichkeiten von Naturkatastrophen zwingen versicherungstechnische Ergebnisse in die Volatilität und demographische wie psychographische Veränderungen fordern permanente Produktinnovationen und -evolutionen. Um diesen neuen Herausforderungen gerecht werden zu können, benötigt die Branche eine risikoorientierte Steuerungsgrundlage, nachvollziehbar dokumentiert und aufbauend auf ausreichender Kapitalausstattung. Insofern sehe ich Solvency II als der Zeit und den Änderungsrisiken angemessenen Werttreiber der Versicherungswirtschaft.   

>> Wird Solvency II die Methoden und Instrumente im Risikomanagement verändern? Wird sich der Reifegrad des Risikomanagements in der Folge positiv entwickeln?

Matthias Müller-Reichart: Solvency II sehe ich als den Treiber des Risikomanagements in Versicherungsunternehmen. Hatte sich das Risikomanagement im Versicherungsunternehmen in der Vergangenheit auf Versicherungstechnik und Kapitalanlage erschöpft, so verlangt die europäische Richtlinie nun einen holistischen, gesamtunternehmerischen Risikomanagement-Ansatz. Endlich wird das auf Ressortspezifika begrenzte Silodenken innerhalb des Versicherungsunternehmens aufgebrochen, um eine ganzheitliche Sichtweise aller relevanten Risiken zuzulassen. Risiko-Komitees auf Vorstandsebene, Risk-Meetings auf Abteilungsleiterebene, Risikoausschüsse im Aufsichtsrat – all diese organisatorischen Veränderungen bewirken eine veränderte Risikokultur in den Versicherungsunternehmen. Mit der veränderten Risikoaffinität der Unternehmen wird sich auch deren Toolbox anpassen – eine Monte-Carlo-Simulation stellt als stochastisches Instrumentarium heute bereits den Basisstandard des Risikomanagements dar. Sicherlich muss der Reifegrad der eingesetzten Instrumente noch wachsen, doch Werkzeuge wie auch Know-How der Mitarbeiter sind aktuell gegeben. Die Anfragen der Versicherungsunternehmen nach unseren Absolventen bestätigen die deutliche Tendenz, das Risikomanagement quantitativ und qualitativ aufzurüsten. Eine wachsende Risikokultur gepaart mit personell und instrumentell verbesserter Risikoqualität wird zwangsläufig den Reifegrad des Risikomanagements voranbringen.

>> Wie wird sich die Risiko-Landkarte der Assekuranz in den nächsten Jahren verändern? Inwieweit tragen die neuen Solvabilitätsbestimmungen dazu bei, die Versicherungswirtschaft auf diese Entwicklungen vorzubereiten?

Matthias Müller-Reichart: Die Risikolandkarte der Versicherungswirtschaft wird allein von exogenen Risiken bestimmt. Politische, rechtliche und naturgegebene Bedingungsrisiken werden die Treiber der Risikolandschaft in der Zukunft sein. Unter politischen Risiken können sie die Niedrigzinssituation, den Umgang mit den Bewertungsreserven, die Zinszusatzreserve sowie die Frage des Höchstrechnungszinses subsummieren. Rechtliche Risiken zeigen sich in europäischen Richtlinien und Verordnungen (Solvency II, European Markets Infrastructure Regulation, Markets in Financial Instruments Directive II, Packaged Retail Investment Products Verordnung, Single European Payment Area, Insurance Mediation Directive II), nationalen Vorgaben (10. VAG-Novelle, MaRisk VA, VVG-Anpassungen, nationale Kapitalmarktrichtlinien, Finanztransaktionssteuer) und selbstverständlich aufsichtsrechtlichen Erwartungen der nationalen (BaFin) und europäischen (EIOPA) Regulierungsinstanzen. Unter naturgegebenen Risiken muss man sich in erster Linie Naturkatastrophen (Sturm, Hagel, Überschwemmung) sowie Infrastrukturprobleme (marode Straßen) vorstellen. Endogene Risiken der Versicherungsunternehmen (prozessbedingte Aktionsrisiken) werden zu Lasten der genannten exogenen Risiken in den Hintergrund rücken.

Durch die neuen Solvabilitätsvorgaben gewinnen Frühwarnsysteme an Bedeutung, womit diese neuen Regulierungsinstrumente einer Prophylaxe der genannten, neuen Risiken dienlich sind. Insofern wird Solvency II die Versicherungsunternehmen auf die neuen risikotechnischen Herausforderungen vorbereiten helfen.  

>> Sie sind Inhaber des Lehrstuhls für Risiko-Management an der Hochschule RheinMain. Haben sich die Inhalte in der Lehre in der Folge der Finanzkrise verändert?

Matthias Müller-Reichart: Die Finanzkrise hat unsere traditionellen Lehrinhalte teilweise ad absurdum geführt. Allein die durch die Finanzkrise erfolgte Falsifizierung der immer wieder bemühten Normalverteilungsvoraussetzung, die wir in zahlreichen Ansätzen als gegeben vorausgesetzt haben, veränderte die curricularen Bestandteile unserer Lehre. Ein Denken in Szenarien, eine Berücksichtigung von Strukturbrüchen und eine kritische Betrachtung der Zeitstabilitätshypothese erfordern einen veränderten didaktischen Aufbau des Risikomanagements, um unsere Studierenden auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereiten zu können. Gleiches gilt in der Modelllandschaft der Risikotheorie, wo Asymmetrien und Tail-Analysen den früheren Schwerpunkt der Value-at-Risk und Varianz-Kovarianz-Ansätze abgelöst haben.

>> Welche Herausforderungen des Risikomanagements schätzen Sie aus akademischer Sicht als dringend bzw. intellektuell herausfordernd ein?

Matthias Müller-Reichart: Aus meiner Sicht stellt ein idealtheoretisches Risikomanagement die Kombination mathematisch sophistizierter Modelle mit erfahrungsbasiertem "Bauch-Gefühl" dar. In Delphi-Prognosen müssen wir somit quantitativ ausgebildete Methodenkompetenz mit qualitativ begründeter Heuristik kombinieren. Stochastische Modellierung gepaart mit Experten basierter Szenario Technik stellt für mich die Herausforderung aber auch das klar definierte Ziel zukunftsfähigen Risikomanagements dar.  

Matthias Müller-Reichart ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden und Inhaber des Lehrstuhls für Risikomanagement. Matthias Müller-Reichart ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden und Inhaber des Lehrstuhls für Risikomanagement.

Als Studiendekan trägt er für den Fachbereich Wiesbaden Business School Verantwortung. Neben zahlreichen Beratungsmandaten bei Erst- und Rückversicherungsunternehmen im In- und Ausland forscht er im Bereich Risiko- und Versicherungsmanagement zu Fragen der quantitativen und qualitativen Aufsichtsregulierung (Solvency II), zu Service- und Produktinnovationen in der Versicherungswirtschaft (Assistance-Barometer) sowie zu allen risikopolitischen Fragen des Versicherungswesens (MaRisk VA, VAG, operationelle Risiken).

Neben zahlreichen Veröffentlichungen zu den genannten Themen hat er einen Sitz im Aufsichtsrat der Landesschadenhilfe VaG. Parallel zu seinen Hochschulaufgaben leitet er eine Beratungsgesellschaft, die sich auf strategische Fragen des Versicherungsmanagements spezialisiert hat und ist zudem als eingetragener Juwelier Inhaber eines Internet-Einzelhandelsunternehmens.   

 

Das Interview ist im FIRM-Innenteil (Frankfurter Institut für Risikomanagement und Regulierung) von Ausgabe 01/2014 der Zeitschrift RISIKO MANAGER erschienen.


[Bildquelle: © so47 - Fotolia.com]

Kommentare zu diesem Beitrag

Tom /23.01.2014 16:36
Sehr gelungenes Interview - herzlichen Glückwunsch. Wann werden die Regulatoren endlich verstehen, dass die Versicherungswirtschaft nicht Verursacher der Finanzkrise war. Dieser Regulierungswahnsinn wird in jedem Fall nicht dazu führen, dass die Qualität des RIsikomanagements besser wird. Und eigentlich ist die Logik doch recht einfach: Es muss ein Recht des Scheiterns geben. Die Unternehmen, die auf ein professionelles Management ihrer Risiken verzichten oder ihre RIsikotragfähigkeit überschätzen, müssen vom Markt aussortiert werden.
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