Europa investiert Milliarden in Innovationsförderung, Start-up-Initiativen und Digitalstrategien. Doch trotz dieser Bemühungen bleibt der Kontinent im globalen Technologiewettlauf deutlich hinter den USA und China zurück. Eine neue Studie von Yann Coatanlem und Olivier Coste liefert eine unbequeme, aber zentrale Erklärung: Die Risiken und Kosten des Scheiterns sind in Europa zu hoch.
Aus Sicht des Risikomanagements ist das nicht bloß ein juristisches oder sozialpolitisches Problem – sondern ein systemisches Innovationshindernis. Wer das Risiko des Scheiterns nicht tragen kann, wird es gar nicht erst eingehen. Und genau darin liegt die strukturelle Schwäche Europas im Vergleich zu flexibleren Ökonomien.
Risikoaversion durch Regulierung
Im Risikomanagement unterscheidet man zwischen der Eintrittswahrscheinlichkeit bzw. Häufigkeit eines Schadens und den möglichen Folgen – den „Impact-Kosten“. Bei disruptiver Innovation ist die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Scheiterns extrem hoch – 70 bis 90 Prozent aller Projekte schlagen fehl. Erfolgreiche Systeme zeichnen sich daher nicht durch niedrige Fehlerraten aus, sondern durch geringe Kosten des Fehlers und hohe Reaktionsfähigkeit.
Hier beginnt das europäische Problem: In Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Italien sind Restrukturierungen langwierig, rechtlich komplex und finanziell aufwendig. So müssen Unternehmen in Deutschland bei größeren Umstrukturierungen monatelange Verhandlungen mit Betriebsräten und weiteren Akteuren führen. In Frankreich kann ein Sozialplan mehrere Jahre dauern und erstreckt sich oft über juristische Instanzen mit unklarem Ausgang. All das verursacht nicht nur hohe Abfindungen, sondern auch gravierende operative Verluste durch Stillstand und Ungewissheit.
Das bedeutet: Innovation wird im Zweifel gar nicht erst gewagt, weil sich Fehlschläge betriebswirtschaftlich nicht mehr rechnen.
Vergleich: USA vs. Europa – Die Zahlen sprechen für sich
Ein prägnantes Beispiel liefert der Vergleich zwischen Microsoft und SAP:
- Microsoft kündigte im Januar 2023 die Entlassung von 10.000 Mitarbeiter an. Die Gesamtkosten: 800 Millionen US-Dollar – rund 80.000 Dollar pro Kopf. Innerhalb weniger Monate waren die Maßnahmen abgeschlossen. Zeitgleich investierte das Unternehmen zehn Milliarden US-Dollar in OpenAI und weitere Milliarden in eigene AI-Infrastruktur. Der Personalumbau verlief parallel zur Innovationsoffensive – ein Paradebeispiel für agile Risikosteuerung.
- SAP hingegen kündigte 2023 eine Restrukturierung mit 8.000 Stellen an. Die Umsetzung dauert mindestens drei Jahre. Allein die Abfindungskosten betragen in Europa bis zu 24 Monatsgehälter pro Person. Während SAP auf überlangen Verhandlungen mit Arbeitnehmervertretungen wartet, liegt das Investitionsvolumen in AI bei gerade einmal 0,6 Milliarden Euro jährlich – ein Bruchteil der US-Wettbewerber.
Noch drastischer zeigt sich der Unterschied bei Meta (Facebook): Innerhalb weniger Monate wurden 20.000 Mitarbeiter entlassen, die Strategie radikal geändert und ein AI-Zukunftsplan mit 37 Milliarden Dollar Infrastruktur-Investitionen aufgesetzt. In Europa hingegen scheitern solche Kurskorrekturen regelmäßig an der Realität der Arbeitsgesetze.
Wo Scheitern erschwert wird, entsteht keine Innovation
In Ländern mit niedrigen Kosten des Scheiterns – wie den USA, der Schweiz oder Dänemark – können Unternehmen Projekte beenden, restrukturieren und neu aufstellen, ohne dass dies den ganzen Konzern lähmt. Die Schweizer Wirtschaft etwa gilt als eine der flexibelsten weltweit: Kündigungen können in kurzer Zeit ausgesprochen werden, Sozialpläne sind selten verpflichtend, und gleichzeitig sorgen stabile soziale Sicherungssysteme für eine faire Abfederung auf Arbeitnehmerseite. Die Kombination aus Flexibilität und Absicherung fördert Veränderung – nicht Stillstand.
Dänemark setzt auf das Modell der „Flexicurity“: leichte Kündigungsmöglichkeiten kombiniert mit aktiver Arbeitsmarktpolitik und hohen Leistungen bei Arbeitslosigkeit. Unternehmen wie Novo Nordisk oder Vestas profitieren davon – sie restrukturieren effizient und investieren gleichzeitig kontinuierlich in neue Technologien.
Im Gegensatz dazu zeigt das Beispiel von Nokia in Finnland die andere Seite: Der Netzwerkausrüster plant den Abbau von 14.000 Stellen – doch laut Unternehmensangaben wird sich der Umbau wegen regulatorischer Hürden bis 2026 hinziehen. Die Folge: Investitionen werden verschoben, Marktchancen verpasst.
Ein großes volkswirtschaftliches Risiko: Weniger Kapital, weniger Gründergeist
Die Risiken hoher Scheiterkosten wirken nicht nur auf Großunternehmen – sie durchdringen das gesamte Innovationsökosystem. Wagniskapitalgeber berücksichtigen in ihren Bewertungen mögliche spätere Restrukturierungskosten. Der Preis, den ein Großkonzern für ein Start-up bei Übernahme zu zahlen bereit ist, sinkt, wenn absehbar ist, dass Entlassungen regulatorisch teuer werden. Das senkt die erwartete Rendite von Venture-Capital-Fonds – und damit die Bereitschaft, überhaupt zu investieren.
Die Folgen sind klar messbar: Europäische Start-ups erhalten jährlich nur ein Drittel des Wagniskapitals im Vergleich zu den USA. Weniger Kapital bedeutet weniger Gründungen, weniger Risikobereitschaft – und ein systemisch unterfinanzierter Innovationssektor.
Fazit: Kosten des Scheiterns sind der blinde Fleck europäischer Innovationspolitik
In Europa wird zu oft das Risiko des Markts oder der Technologie diskutiert – aber nicht das Risiko, wenn etwas schiefläuft. Die Studie von Coatanlem und Coste zeigt: Es sind nicht die fehlenden Ideen, das mangelnde Talent oder die Kapitalmärkte, die Europa bremsen. Es ist das regulatorische Korsett, das verhindert, dass Unternehmen mutige Entscheidungen treffen – und aus Fehlschlägen schnell lernen.
Ein risikoorientierter Ansatz in der Innovationspolitik muss daher die institutionellen Barrieren des Scheiterns ins Zentrum rücken. Nur wenn Unternehmen scheitern dürfen, ohne daran zu zerbrechen, entsteht Raum für echte Innovation. Die Flexibilisierung des Arbeitsrechts – zumindest für hochqualifizierte, mobile Beschäftigte – wäre kein Angriff auf das Sozialmodell, sondern eine Überlebensstrategie für Europas wirtschaftliche Zukunft.
Text basierend auf der folgenden Studie: Coste, Oliver / Coatanlem, Yann: Policy Brief n.25 - Cost of Failure and Competitiveness in Disruptive Innovation, IEP@BU - Institute for European Policymaking, Università Bocconi, 05/09/2024