Eine neue ifo-Studie legt mit ungewöhnlicher Klarheit dar, dass Bildung weit mehr ist als ein individuelles Gut oder ein arbeitsmarktpolitisches Thema ist. Sie ist ein makroökonomischer Kernindikator – ein Frühwarnsignal für strukturelle Stärke oder Schwäche – und ein entscheidender Bestandteil staatlicher Risikotragfähigkeit [vgl. Werkmeister / Wößmann 2025]. Wer die langfristige Entwicklung von Produktivität, Wachstum, Staatsfinanzen und geopolitischer Wettbewerbsfähigkeit verstehen will, muss Bildung als systemische Determinante begreifen.
Die empirischen Befunde des ifo-Instituts zeigen, dass Kompetenzniveaus in der Bevölkerung eng mit dem zukünftigen Wirtschaftswachstum verbunden sind. Sinkt die Bildungsqualität, steigt das Risiko einer strukturellen Wachstumsdelle – mit direkten Folgen für Steueraufkommen, Investitionsfähigkeit, Innovationskraft und damit die fiskalische und ökonomische Resilienz eines Landes. Dies spiegelt sich eindrucksvoll in der Studie wider, die den klaren positiven Zusammenhang zwischen Bildungsleistungen und langfristigen Wachstumsraten zeigt.
Bildung als Makro-Risikofaktor: Was die empirische Evidenz zeigt
Die ifo-Studie zeigt, dass eine Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten – etwa durch das Senken des Anteils leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler – erhebliche langfristige BIP-Zuwächse erzeugen kann. Diese Effekte sind nicht nur statistisch signifikant, sondern volkswirtschaftlich hoch relevant. Denn Bildungsqualität wirkt wie ein Multiplikator, der Arbeitsproduktivität, Innovationspotenziale und Steueraufkommen gleichzeitig erhöht.
So präsentiert die Studie einen robusten Zusammenhang zwischen Kompetenzniveaus und langfristigen Pro-Kopf-Wachstumsraten (siehe Abb. 01). Länder, die über hohe Bildungsleistungen verfügen, weisen dauerhaft höhere Wachstumsraten auf und brechen seltener in strukturelle Krisen ein. Langfristige Wachstumsraten zu den wichtigsten Bestimmungsfaktoren der staatlichen Risikotragfähigkeit zählen. Die Abbildung gibt die Ergebnisse des Regressionsmodells grafisch wieder: Es gibt einen sehr engen, systematischen Zusammenhang zwischen höheren Bildungsleistungen und höherem Wirtschaftswachstum. Dieses einfache Modell kann über drei Viertel der Unterschiede in den langfristigen Wachstumsraten der verschiedenen Volkswirtschaften erklären.
Wesentliche Implikationen der Abb. 01 lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Höhere Kompetenzen führen zu höherer Produktivität und damit zu höherem Potenzialwachstum.
- Das Risiko fiskalischer Stresssituationen sinkt, weil die Steuerbasis breiter und stabiler wird.
- Das Innovationssystem gewinnt an Anpassungsfähigkeit – ein zentraler Faktor in Zeiten technologischer Disruption.
- Volkswirtschaften mit starkem Humankapital erholen sich schneller von externen Schocks.
Abb. 01: Bildungsleistungen und Wirtschaftswachstum [Wirtschaftswachstum: Zusammenhang zwischen Leistungen in internationalen Mathematik-und Naturwissenschaftstests (exponenzielle PISA-Punkte) und durchschnittlicher jährlicher Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf in % (1960–2000) nach Herausrechnung weiterer Einflussfaktoren. [Quelle: Berechnungen des ifo Instituts auf Basis von Hanushek und Wößmann (2016)]
Damit wird Bildung zu einem zentralen Faktor makroökonomischer Stabilität.
Bildung und Staatlichkeit im historischen Big-Cycle-Konzept
Die empirischen Ergebnisse von Hanushek und Wößmann zeigen somit eindeutig, dass kognitive Kompetenzen ein zentraler Treiber des langfristigen Wirtschaftswachstums sind. Diese mikro- und makroökonomischen Befunde fügen sich jedoch nicht nur in moderne Wachstumsmodelle ein, sondern werden auch durch historische Muster bestätigt, wie sie Ray Dalio in seiner Theorie der "Big Cycles" identifiziert hat. Während die Bildungsforschung statistisch demonstriert, wie stark Humankapital die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bestimmt, zeigt Dalio aus historischer Sicht, wie Bildung und Kompetenzniveaus systematisch den Aufstieg, die Stabilität und den Niedergang großer Volkswirtschaften geprägt haben. Bildung wird damit nicht nur zum ökonomischen Faktor, sondern zu einer der tiefsten Strukturvariablen der langfristigen geopolitischen Entwicklung.
Ray Dalio argumentiert, dass große Volkswirtschaften über mehrere Jahrhunderte hinweg wiederkehrende Entwicklungszyklen durchlaufen, die durch Phasen des Aufstiegs, der Blüte, der Überdehnung und schließlich des relativen Niedergangs gekennzeichnet sind. Ein entscheidender struktureller Treiber dieser Zyklen sei die Qualität des Humankapitals, das durch Bildung erzeugt wird. Bildung ist für Dalio nicht nur ein gesellschaftliches Gut, sondern der "Hebel", der Innovation, institutionelle Leistungsfähigkeit, militärische Stärke und wirtschaftliche Dynamik erst möglich macht.
Die historischen Beispiele, die Dalio analysiert, sind besonders eindrucksvoll:
- Niederlande (17. Jahrhundert): Die Niederlande entwickelten ein außergewöhnlich hohes Bildungsniveau, insbesondere in Mathematik, Nautik, Handelsrecht und kaufmännischen Kompetenzen. Diese Wissensbasis ermöglichte technische Innovationen in der Schifffahrt, den Aufbau hochentwickelter Finanzmärkte (inkl. der Amsterdamer Wechselbank) und die Etablierung eines globalen Handelssystems. Dalio bezeichnet diese Phase als einen der frühesten modernen Big Cycles, bei dem Bildung eine zentrale Rolle für ökonomische und geopolitische Führerschaft spielte.
- Großbritannien (18.–19. Jahrhundert): Die industrielle Revolution war nicht nur eine Folge technologischer Erfindungen, sondern eines systematischen Ausbaus technischer Bildung: Mechanic Institutes, Ingenieursschulen, die Professionalisierung naturwissenschaftlicher Forschung. Dalio zeigt, wie Großbritannien durch Bildung eine Innovationskultur etablierte, die wiederum institutionelle Reformen, Kapitalakkumulation und internationale Dominanz ermöglichte.
- USA (20. Jahrhundert): Der Aufstieg der USA ist für Dalio untrennbar mit massiven Bildungsinvestitionen verknüpft: breite Schulbildung, die Einführung des High-School-Systems, die GI Bill nach 1945, exzellente Universitäten und eine Forschungskultur, die zu überdurchschnittlichem Produktivitätswachstum führte. Aus Dalios Sicht war dies einer der Hauptgründe, warum die USA im 20. Jahrhundert zur führenden Weltmacht wurden.
Dalios grundlegende Erkenntnis lautet: Staaten steigen auf, wenn sie in Bildung investieren, und sie verlieren an globaler Bedeutung, wenn Humankapital erodiert. Damit ergänzt Dalio die empirische Bildungsforschung um eine historische Makroperspektive. Während moderne Studien quantifizieren, wie stark Bildung das Wachstum beeinflusst, zeigt Dalio, welche systemischen Folgen ein dauerhaftes Absinken der Bildungsqualität haben kann: sinkende Innovationskraft, institutionelle Überlastung, politische Polarisierung, geringere fiskalische (Risiko-)Tragfähigkeit und schließlich eine erhöhte Anfälligkeit für externe Schocks.
Dalio macht zudem deutlich, dass Bildung einer der wenigen Faktoren ist, der sowohl die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als auch die institutionelle Resilienz stärkt. Staaten mit hohem Humankapital weisen robustere Steuerbasen, flexiblere Arbeitsmärkte, schnellere Anpassungsmechanismen und eine höhere Fähigkeit zur technologischen Transformation auf. Diese Verbindung ist auch aus der Perspektive des Risikomanagements essenziell, da sie die Risikotragfähigkeit eines Landes maßgeblich beeinflusst.
Bildung als makroökonomischer Stabilisator
Die international führende Bildungsforschung – insbesondere von Hanushek und Wößmann – bestätigt, dass der Schlüssel nicht in der Quantität der Schulbildung liegt, sondern in der Qualität. Es sind die kognitiven Fähigkeiten, die Produktivität, Einkommen, Innovationsrate und damit langfristiges Wachstum erklären.
Diese Erkenntnis ist besonders relevant, weil viele Industriestaaten – darunter auch Deutschland – seit Jahren stagnierende oder sinkende Kompetenzniveaus aufweisen. Die Konsequenzen für die Risikotragfähigkeit eines Staates sind erheblich:
- Sinkende Bildungsleistungen reduzieren das Potenzialwachstum.
- Schwächeres Wachstum führt zu höheren Schuldenquoten.
- Die fiskalischen "fiscal limits" rücken schneller näher.
- Die Verwundbarkeit gegenüber externen Schocks steigt.
Bildung wirkt stabilisierend, weil sie die Anpassungsfähigkeit der Volkswirtschaft erhöht. Eine gut ausgebildete Bevölkerung kann technologische Veränderungen schneller integrieren, neue Branchen entwickeln und wirtschaftliche Schocks besser absorbieren. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund technologischer Disruption – Artificial Intelligence, Digitalisierung, Automatisierung – entscheidend.
Die ifo-Studie zeigt zudem, dass höhere Bildungsqualität zu geringerer Arbeitslosigkeit, höherer Erwerbsbeteiligung und geringerer Abhängigkeit von sozialen Sicherungssystemen führt. Diese Faktoren stabilisieren sowohl Staatsfinanzen als auch Konsumverhalten und verringern die Wahrscheinlichkeit makroökonomischer Spannungen. Damit wird Bildung zu einem der wichtigsten Stabilisatoren moderner Volkswirtschaften.
Für das strategische Risikomanagement in Unternehmen und Institutionen ergeben sich aus diesen Erkenntnissen mehrere zentrale Handlungsfelder:
- Integration von Bildungsindikatoren in makroökonomische Frühwarnsysteme.
- Neubewertung langfristiger Standortrisiken und Investitionsentscheidungen.
- Berücksichtigung der Bildungspolitik in geopolitischen Risikoanalysen.
- Bewertung der fiskalischen Tragfähigkeit unter Einbeziehung des Potenzialwachstums.
Besonders wichtig ist, dass Risikomanager verstehen, wie eng Bildungsqualität mit fiskalischer Stabilität verknüpft ist. Je höher die Kompetenzen, desto größer die wirtschaftliche Basis eines Staates – und desto geringer seine Wahrscheinlichkeit, in fiskalische Krisen abzurutschen.
Fazit: Bildung als Kern für Resilienz und Stabilität
Die neue ifo-Studie liefert einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftspolitischen Debatte: Sie zeigt, wie essenziell Bildung für das langfristige Wachstum und die Stabilität eines Landes ist. Bildung ist nicht nur ein gesellschaftliches Gut, sondern eine makroökonomische Sicherheitsarchitektur – vergleichbar mit Infrastruktur, Kapitalmärkten oder Energieversorgung.
Die Verbindung zwischen Bildung und Risikotragfähigkeit ist eindeutig: Staaten mit hoher Bildungsqualität sind resilienter, produktiver, innovativer und besser in der Lage, externe Schocks abzufedern. Damit lautet die zentrale Botschaft: Die Fähigkeit eines Staates, wirtschaftliche Risiken zu tragen, wächst oder schrumpft mit seinem Bildungssystem – kein anderer Faktor wirkt langfristig so tiefgreifend.
Weiterführende Literaturhinweise
- Bi, H. (2012): Sovereign Default Risk Premia, Fiscal Limits, and Fiscal Policy, in: European Economic Review, Vol. 56(3), S. 389-410.
- Dalio, R. (2022): Weltordnung im Wandel: Vom Aufstieg und Fall von Nationen, FinanzBuch Verlag, München 2022.
- Hanushek, E. A. / Wößmann, L. (2015a), The Knowledge Capital of Nations: Education and the Economics of Growth, MIT Press, Cambridge, MA.
- Hanushek, E. A. / Wößmann, L. (2016), "Knowledge Capital, Growth, and the East Asian Miracle”, Science 351(6271), 344 – 345.
- Panizza, U. / Sturzenegger, F. / Zettelmeyer, J. (2009): The Economics and Law of Sovereign Debt and Default, in: Journal of Economic Literature, Vol. 47, No. 3, September 2009, S. 651-98.
- Reinhart, C. M. / Rogoff, K. S. (2009): This time is different – Eight centuries of Financial Folly, Princeton University Press, Princeton 2009.
- Reinhart, C. M. (2010): This Time is Different Chartbook: Country Histories on Debt, Default, and Financial Crises, NBER Working Paper No. 15815, Cambridge/MA 2010, Internet: www.nber.org/system/files/working_papers/w15815/w15815.pdf
- Werkmeister, K. / Wößmann, L. (2025): Volkswirtschaftliche Erträge besserer Bildung: Projektionen aktueller Bildungsziele für Deutschland und die Bundesländer, München 2025.




