Aktuell macht sich immer wieder das Gefühl rapider Veränderungen breit. Ob geopolitisch, wirtschaftlich, sozial oder klimatisch – viele komplexe Systeme scheinen sogar zu kippen, die Auswirkungen sind oft unklar. Diese Dynamiken betreffen auch Unternehmen und Organisationen, die mit wachsender Planungsunsicherheit in Bereichen wie Investitionen, Lieferketten und Absatzmärkten konfrontiert werden. Doch sind Kipppunkte tatsächlich unvorhersagbar oder können Indikatoren genutzt werden, um Unternehmen durch gezielte Steuerung resilienter zu machen? Aktuelle Forschung indiziert letzteres.
Unternehmen können grundsätzlich zwei Strategien verfolgen, um Kipppunkte zu vermeiden oder negative Folgen abzuschwächen. In Bestandssystemen können Frühwarnsignale genutzt werden, um drohende Instabilität frühzeitig zu erkennen. Die Auswahl geeigneter Indikatoren hängt stark von der Datengrundlage und dem spezifischen Anwendungskontext ab. Häufig werden dabei jedoch statistische Größen wie Varianz oder Asymmetrie von Verteilungen herangezogen. Zum anderen können neue Systeme von Beginn an so gestaltet werden, dass sie strukturell resilient gegenüber Kipppunkten sind. Hierbei spielen vor allem die Eigenschaften der zugrunde liegenden Netzwerke, also wie Informationen weitergegeben und verarbeitet werden, eine entscheidende Rolle. Beide Strategien sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.
Kippunkte frühzeitig detektieren
Ein Indiz für einen sich nähernden Kipppunkt ist das Phänomen bekannt als "critical slowing down", also kritische Verlangsamung. Es beschreibt Situationen, in denen ein komplexes System unverhältnismäßig stark auf kleinste Reize reagiert. Dies geht oft mit einer deutlich reduzierten Erholungsrate einher, die verhindert, dass das System nach kleinen Störungen zum Normalzustand zurückkehrt.
Allerdings gehen nicht alle Kipppunkte mit einer Verlangsamung einher. Auch abrupte und wirkungsvolle Änderungen können diese hervorrufen. Besonders stochastische Systeme, also solche, die von Zufallsprozessen beeinflusst werden, zeigen erhöhte Anfälligkeit hierfür. Die Beobachtung des Systemverhaltens unter dem Einfluss von Störungen kann deshalb Aufschluss über dessen Stabilität geben. Häufig lässt sich vor dem tatsächlichen Kipppunkt ein Phänomen bekannt als "flickering" (Deutsch: flackern) beobachtet. Der Zustand des Systems springt dabei zwischen verschiedenen Attraktoren hin und her, wodurch beobachtete Variablen stark schwanken und die Varianz zunimmt.
Diese Phänomene sind keine sicheren Beweise für das Eintreten eines Kipppunkts, können jedoch als Indikatoren für eine erhöhte Instabilität dienen. Werden sie systematisch überwacht, können daraus Frühwarnsignale abgeleitet werden, die es Organisationen ermöglichen, sich auf bevorstehende Veränderungen vorzubereiten. Damit können potenzielle negative Auswirkungen abgeschwächt oder der kritische Übergang gänzlich vermieden werden. Umgekehrt kann eine Störung des Systems auch erwünscht sein und der Kipppunkte eine positive Veränderung hervorrufen. In diesem Fall helfen dieselben Indikatoren, um zu prüfen, ob die angestrebte Veränderung erfolgreich implementiert wurde.
Resiliente Systeme designen
Effizienter als das Beobachten und die Reaktion auf potenzielle Kipppunkte ist es, Systeme bereits im Vorhinein mit geeigneten Schutzmechanismen zu designen. Grundvoraussetzung für Kipppunkte in komplexen Systemen sind in der Regel positive Rückkopplungseffekte, die nach Überschreitung eines kritischen Punkts einen rapiden Wandel vorantreiben. Dabei beeinflussen hauptsächlich zwei Merkmale komplexer Systeme diese Rückkopplung: Heterogenität und Konnektivität.
Ein Netzwerk, das das komplexe System beschreibt, besteht aus verschiedenen, verknüpften Knoten, die in Abhängigkeit vom Zustand der Nachbarknoten alternative Zustände annehmen können. Verhalten sich alle Knotenpunkte ähnlich, es herrscht eine Homogenität der Entscheidungsfunktionen, kann ein einzelner Reiz im System eine Kettenreaktion auslösen und das System kippt. Weisen die Knotenpunkte hingegen ein individuelles Reaktionsmuster auf, verlaufen die Veränderungen meist langsamer.
Ähnliches gilt für die Konnektivität der Netzwerke. In hochvernetzten Systemen können sich Reaktionen auf Reize schlagartig ausbreiten. Ist das System jedoch modular aus mehreren lokalen Subnetzwerken aufgebaut, wird das Risiko systemweiter Kipppunkte deutlich reduziert. Beide Phänomene kann man am Beispiel der Globalisierung beobachten. Die zunehmende Vernetzung von Märkten erhöht die Wahrscheinlichkeit systemischer Schocks. Gleichzeitig führt die weltweite Homogenisierung von Informationsflüssen, etwa durch das Internet, zu einer höheren Synchronisation von Reaktionen, was positive Rückkopplungen begünstigen kann. Beim Design von organisationalen Netzwerken sollte also auf die Einbeziehung einer diversen Struktur von Entscheidungsträgern und den modularen Aufbau geachtet werden.
Kipppunkte sind ein interdisziplinäres Phänomen, das weit über einzelne Fachbereiche hinausreicht. Ein besseres Verständnis dieser Dynamiken kann Organisationen helfen, Risiken frühzeitig zu erkennen und nachhaltige Strategien zur Bewältigung dynamischer Veränderungen zu entwickeln. Die Kombination aus systematischer Beobachtung von Indikatoren und resilientem Systemdesign bildet dabei die Grundlage für ein zukunftsorientiertes Risikomanagement.
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Autorin:
Stella Rauscher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Controlling und Simulation an der Technischen Universität Hamburg.
Literatur
- Artime, O., Grassia, M., De Domenico, M., Gleeson, J. P., Makse, H. A., Mangioni, G., Perc, M., & Radicchi, F. (2024). Robustness and resilience of complex networks. Nature Reviews Physics, 6(2), 114–131. https://doi.org/10.1038/s42254-023-00676-y
- Scheffer, M., Carpenter, S. R., Lenton, T. M., Bascompte, J., Brock, W., Dakos, V., van de Koppel, J., van de Leemput, I. A., Levin, S. A., van Nes, E. H., Pascual, M., & Vandermeer, J. (2012). Anticipating Critical Transitions. Science, 338(6105), 344–348. https://doi.org/10.1126/science.1225244




