Sind deutsche Untenehmen blind und schlecht vorbereitet?

Vom Extremrisiko zur extremen Krise


Das Risikomanagement befasst sich mit den Ursachen möglicher Planabweichungen, also mit Chancen und Gefahren. Naturgemäß haben für Unternehmen gerade "Extremrisiken", die potenziell außerordentlich hohe Eigenkapital- und Liquiditätsverluste zur Konsequenz haben können, einen besonderen Stellenwert, da sie bestandsbedrohend sein können. Es sind gerade diese Extremrisiken, die das zukünftige Rating bedrohen, die Insolvenzwahrscheinlichkeit maßgeblich bestimmen und potenziell den Bestand des Unternehmens gefährden. Es verwundert sicherlich nicht, dass neben möglichen schwerwiegenden Fehlentscheidungen (beispielsweise bei Großinvestitionen und Akquisitionen) gerade starke Veränderungen des makroökonomischen Umfelds in die Kategorie dieser Extremrisiken fallen. Bei einer rationalen Betrachtung aus Perspektive der Unternehmenseigentümer ist es jedoch sehr befremdlich, dass Unternehmensführung und Risikomanagement vieler Unternehmen kaum Energie für eine rechtzeitige Identifikation, quantitative Bewertung und Prävention speziell makroökonomischer Extremrisiken eingesetzt haben. Und genau dies rächt sich nun in der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise und wird bedauerlicherweise wohl häufig an sich vermeidbare schwerwiegende Krisen und gar Insolvenzen mit sich bringen.

Warum haben so viele Unternehmen deutliche Defizite im Bereich der makroökonomischen Frühaufklärung, im strategischen Risikomanagement und im präventiven Krisenmanagement? Nach unserer Erfahrung und Gesprächen mit den Verantwortlichen in vielen Unternehmen sind insbesondere folgende Ursachen festzustellen:

  1. Formalismus und interne Orientierung des Risikomanagements: Viele Risikomanagementsysteme der Unternehmen sind primär formal auf die Erfüllung der Anforderung des Kontroll- und Transparenzgesetzes (KonTraG) ausgerichtet und nicht auf die Unterstützung der Unternehmensführung bei der nachhaltigen Absicherung des Unternehmenserfolgs. Unsichere Planannahmen werden nicht betrachtet, eingetretene Planabweichungen nicht im Hinblick auf Ursachen analysiert und bei wesentlichen Entscheidungen die erwarteten Erträge nicht mit den Risiken abgewogen. Es fehlt zudem oft die Bestimmung  des Gesamtrisikoumfangs, also die Aggregation von Risiken, was für einen Vergleich mit der verfügbaren Risikotragfähigkeit (Eigenkapital und Liquiditätsausstattung) zwingend notwendig ist. Zudem befasst sich das Risikomanagement oft besonders mit "internen Risiken" und übersieht, dass – außer unternehmerischen Fehlentscheidungen – schwerwiegende Unternehmenskrisen oft durch gravierende Veränderungen im makroökonomischen Umfeld ausgelöst werden, also etwa durch eine wegbrechende Nachfrage, gravierende Veränderungen von Aktienkursen oder Rohstoffpreisen oder die Verknappung des Kreditangebots.
  2. Mangelnde Beachtung der "Extremausprägung" von Risiken: Unternehmensführung, Controlling und Risikomanagement beschäftigen sich zudem hauptsächlich mit den „typischen“ Risikoauswirkungen, dem Umfang normaler Planabweichungen, die im Rahmen des eigenen Erlebens- und Erfahrungshorizonts bereits aufgetreten sind – also beispielsweise  Eintrittswahrscheinlichkeiten von 5  bis 20 Prozent aufweisen. Die tatsächlich bestandsbedrohenden Risiken sind oft jedoch viel seltener und erfordern den Umgang mit Risikoszenarien, deren Eintrittswahrscheinlichkeit bei 0,1 Prozent oder 1 Prozent liegt. Es ist hier schon überraschend, dass ein Unternehmen ein "A-Rating" anstrebt, das eine Insolvenzwahrscheinlichkeit von circa 0,1 Prozent – einmal in 1000 Jahren – impliziert, aber sich nicht einmal mit "typischen Jahrhundertereignissen" befasst – wie einer Finanz- oder Weltwirtschaftskrise. Im strategischen Management fehlt meist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit derartigen Extremereignissen, deren Einzelursachen gar nicht prognostiziert werden müssen und bei der Risikoquantifizierung wird mit Annahmen gearbeitet, die mit der Realität nicht vereinbar sind. So ist gerade bei der Betrachtung von Extremrisiken die beliebte Annahme von "Normalverteilung" oder "Random Walk", die auf der Unabhängigkeit vieler kleiner Einzeleinflüsse basiert, für die Krisenbetrachtung ungeeignet. Extreme Krisen, wie Börsencrashs, sind wesentlich wahrscheinlicher als diese Modelle vorhersagen – was viele Kreditinstitute mit ihren Risikomodellen gerade erfahren. Selbstverstärkende Prozesse und die Interaktionen der vielen Wirtschaftsakteure führen zu einer "wilden Zufälligkeit" (Taleb/Mandelbrot), die andere Methoden der Quantifizierung erfordern – beispielsweise Verfahren der Extremwerttheorie (Pareto-Verteilung) und die explizite Berücksichtigung der Tatsache, dass die Risikoquantifizierung (die Modellparameter) selbst unsicher sind.
  3. Mangelndes volkswirtschaftliches Verständnis: Die interne Ausrichtung von Risikomanagement und auch Frühaufklärungssystemen sowie die häufige Praxis, Trends in Daten der Vergangenheit einfach fortzuschreiben, führt zu blinden Flecken in Risikowahrnehmung und Krisenprävention. Notwendig wäre stattdessen ein Verständnis möglicher Entwicklungsszenarien in der Volkswirtschaft, die erhebliche Konsequenzen für Absatz, Kosten oder Bilanzwertansätze eines Unternehmens haben können. So ist wenig verständlich, warum kaum ein Unternehmen die möglichen Implikationen eines "Börsencrashs" oder speziell der "Preisblasen" auf verschiedenen Immobilienmärkten berücksichtigt hat.


Die fehlende Risikowahrnehmung und Quantifizierung ist natürlich unmittelbare Ursache für die offenbar häufig fehlende Vorbereitung auf ein mögliches risikobedingtes Krisenszenario – gelegentlich hört man zudem die Hoffnung, dass eine schwerwiegende Krise möglichst nicht in dem Zeitrahmen eintritt, in dem man selbst Verantwortung für das Unternehmen trägt. Es ist offensichtlich, dass strategisches Risikomanagement, Frühaufklärung und Prognosesysteme zukünftig verbessert werden sollten, um speziell auch extreme Risiken besser managen zu können.

Nur was lässt sich in der aktuellen Situation noch als akute Krisenprävention unternehmen? Spätestens jetzt ist es auf jeden Fall notwendig tatsächlich mögliche "Extremszenarien" (beispielsweise bezüglich Absatzeinbruch) in den Konsequenzen für Ertrag und Liquidität zu quantifizieren – und notwendige Gegenmaßnahmen sofort in die Wege zu leiten. Für die jetzige und zukünftige Krisen muss versucht werden, die Unternehmensstrategie "robust" zu machen, d. h. die Strategie so auszurichten, dass Erfolg und zumindest Bestand des Unternehmens durch stabile Kernkompetenzen, Flexibilität und ausreichende Risikotragfähigkeit gewährleistet sind. Für die Entwicklung derartig robuster Strategien ist dabei primär erforderlich, mögliche Wirkungsszenarien zu betrachten - Einzelursachen und ihre Wahrscheinlichkeit sind für eine derartige Analyse von geringer Bedeutung.

udem sollten die mit einer Finanz- und Wirtschaftskrise einhergehenden Folgerisiken nun ebenfalls quantifiziert werden. Eingehend betrachtet werden müssen hier beispielsweise die Gefahren durch Kreditklauseln (Covenants), die bei einem Ergebniseinbruch und einer entsprechenden Verschlechterung von Finanzkennzahlen eine Reduzierung des Liquiditätsrahmens oder gar eine Kreditkündigung zur Folge haben kann. Ebenso betrachtet werden müssen die Implikationen der möglichen Kündigung von Kreditversicherungen, die Wahrscheinlichkeit und Konsequenzen des Ausfalls von Kunden oder anderer wichtiger Geschäftspartner. Auch die "Impairment-Risiken", also die sich möglicherweise ergebenden Wertberichtigungen in der eigenen Bilanz infolge der Veränderung in der Realwirtschaft und auf den Finanzmärkten, können bedeutsam werden.

Als Fazit ist (bedauerlicherweise) festzuhalten, dass strategisches Management, Controlling und Risikomanagement vieler Unternehmen viel Energie aufwendet für vergleichsweise wenig bedeutsame Risiken – aber seltene Extremrisiken, speziell des makroökonomischen Umfelds, kaum betrachtet und im Rahmen einer strategischen Risikoabwehr damit nicht bewältigt wurden.

Autor:

Dr. Werner Gleißner, Leiter der Risiko-Forschung der Marsh GmbH und Vorstand der FutureValue Group AG, Leinfelden-Echterdingen, www.werner-gleissner.de


Literaturverzeichnis:

Gleißner, W. (2008): Grundlagen des Risikomanagements im Unternehmen, Vahlen Verlag München.

Gleißner, W. (2004): FutureValue - 12 Module für eine strategische wertorientierte Unternehmensführung, Gabler Verlag Wiesbaden.

 

Kommentare zu diesem Beitrag

Robert /17.05.2009 22:37
Mit welchen Werkzeugen kann ich denn diese "wilde Zufälligkeit" erkennen? Hilft da wirklich eine Szeanrioanalyse und Stressszenarien? Auch hier fliessen doch nur die Stressannahmen herein, die offensichtlich sind und die mir gerade einfallen. Welche Werkzeuge liefert in dem Zusammenhang eigentlich die Zukunftsforschung? Ich habe als Risikomanager sehr gute Erfahrungen mit der Delphibefragung und der Methode 635 gemacht. Mich würden die Erfahrungen anderer RiskNET-Leser interessieren ...
Dietmar /19.05.2009 21:01
Wir haben mit stochastischen Stresssimulationen sehr gute Erfahrungen gemacht. Allerdings haben wir vorgeschaltet Methode635/Brainwriting. Wichtig ist dabei ein erfahrener Moderator ... leider gibt es da viele Laien-Schauspieler! ;-(
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