An der Rolle von THE scheiden sich die Geister

Profis oder Amateure des Risikomanagements?


Profis oder Amateure des Risikomanagements? An der Rolle von THE scheiden sich die Geister Kolumne

Am Samstag wurde feierlich in Wilhelmshaven das erste LNG-Terminal von Bundeskanzler Scholz, Wirtschaftsminister Habeck und Finanzminister Lindner eingeweiht. Der Bundeskanzler lobte dabei insbesondere die Errichtung in Rekordzeit und betonte das "neue Deutschland-Tempo". Insbesondere im Zusammenhang mit Risikomanagement ist schnell-schnell aber nicht immer gut, wie die Kritik an THE zeigt.

Infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und dem kurzfristigen Ersatz des russischen Gases mussten die inländischen Gasspeicher schnellstmöglich befüllt werden. Hierfür wurde Trading Hub Europe (THE) von der deutschen Regierung beauftragt. THE ist nach eigenen Angaben "sieben Tage, 24 Stunden" dabei, "im Drei-Schicht-Betrieb" Gas zu bestellen. Das Bestellvolumen des Flüssiggases (LNG) belief sich dabei im März 2022 auf 1,5 Milliarden Euro. Das Ganze war sehr kurzfristig und die Entscheidung, wo THE das Gas einkauft, oblag dem Gashändler. 

Jede Menge Fake News im Umlauf

Im Zusammenhang mit THE sind insbesondere über soziale Medien diverse Fake News im Umlauf. So wurde in einem Kettenbrief auf Facebook beispielsweise angedeutet, dass THE die Gasumlage in Deutschland "beschlossen" habe. Dies kann in das Reich der Fabeln verwiesen werden. Vielmehr hat THE lediglich die Höhe von 2,419 Cent pro Kubikmeter errechnet. Die rechtliche Verankerung, also der Beschluss, erfolgte allerdings durch die Bundesregierung.

THE hat als sogenannter Marktgebietsverantwortlicher die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich immer genug Gas im deutschen Gasnetz befindet. THE entstand Mitte 2021 infolge eines Zusammenschlusses von elf Fernleitungsnetzbetreibern, darunter etwa Thyssengas, Gastransport Nord oder Bayernets.

Zweifel am vielfach postulierten Plan B

Im Hinblick auf den European Green Deal und die Frage, ob sich Milliardeninvestitionen in fossile Energieträger überhaupt mit den EU-weiten Dekarbonisierungszielen vertragen, wird häufig von den Entscheidern darauf verwiesen, dass Tanker, Terminals und Transitleitungen auch bei einem Umstieg auf umweltfreundlichen Flüssigwasserstoff verwendet werden können. 

Genau an dieser Argumentation haben Experten allerdings ihre Zweifel. Neben der Energieexpertin Ganna Gladkykh von der European Energy Research Alliance (EERA) äußerte auch Rainer Quitzow, der Forschungsgruppenleiter vom Potsdamer Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS), deutliche Zweifel: "Wasserstoff wird heute, 2022, noch gar nicht verschifft."

Dafür brauche man andere Legierungen und Materialien, denn Wasserstoff sei explosiver und deswegen gefährlicher. Die International Renewable Energy Agency geht von Zusatzkosten von bis zu 20 Prozent aus, wenn die Infrastrukturen auf Wasserstoffbetrieb umgerüstet werden müssen. Glakykh sprach deshalb von einer "Überinvestition" und kritisierte die deutsche Energiepolitik scharf. 

Neben den technisch-organisatorischen Fragen und der zweifelhaften Wirkung auf die EU-Nachhaltigkeitsbestrebungen wurde vor Kurzem bekannt, dass die LNG-Importe aus Russland seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs auf ein Rekordhoch gestiegen sind. THE teilte bereits vor ein paar Monaten mit, dass es nicht ausschließen könne, dass das "LNG aus Russland kommt". 

Schätzungen belaufen sich auf rund 27 Milliarden Euro, die die EU von Januar bis November 2022 nach Moskau überwiesen hat. Allerdings sind die LNG-Importe nur ein Bruchteil dessen, was früher über die russischen Gaspipelines nach Deutschland kam – 2021 im Zeitraum von Januar bis November 133 Milliarden Kubikmeter, gegenüber den im selben Zeitraum importierten 15 Milliarden Kubikmetern LNG bzw. 18 Milliarden Kubikmetern LNG in den ersten elf Monaten 2022.

Zentrale Schwächen: Dringlichkeit und fehlendes Risiko-Know-how?!

Sicherlich dürfte die Dringlichkeit der Gasbeschaffung einer der zentralen Gründe gewesen sein, warum die Einkaufspreise deutlich erhöht waren. Formal wurde zwar das Ziel, die Gasspeicher bis zum Beginn des Winters zu füllen, erfüllt. Allerdings schlagen Experten Alarm, dass dies mit Milliardenverlusten einhergeht. 

Nach Informationen des Fachdienstes "Tagesspiegel Background" lagen die Einkaufspreise mit 175 Euro pro Megawattstunde Gas deutlich über dem aktuellen Marktpreis. Das gesamte Beschaffungsvolumen belief sich auf rund 8,7 Milliarden Euro. Bei einem Verkauf zum aktuellen Marktwert von 145 Euro pro Megawattstunde entstünden Verluste von rund 1,5 Milliarden Euro

Besonders stark kritisiert wird die verstärkte Aktivität von THE auf dem Terminmarkt seit Anfang Oktober 2022. Zu diesem Zeitpunkt waren die Gasspeicher nahezu voll und es hätte eigentlich keinen ernsthaften Grund gegeben, hier aktiv werden zu müssen, um die Füllstandsziele zu erfüllen.

Hanns Koenig vom Analysehaus Aurora Energy Research kritisierte, dass die Aktivitäten auf dem Spotmarkt, die "weiterhin nicht abgesichert" wurden, sich "nur mit mangelnden technischen und ökonomischen Fähigkeiten erklären" ließen. Lion Hirth von der Hertie School schlug in eine ähnliche Kerbe, als er konstatierte: "THE hat sich angestellt wie ein Energiemarkt-Anfänger, der nichts von Risikomanagement versteht."

Was Risikomanagement und Poker gemeinsam haben

Der professionelle Pokerspieler Jan Heitmann hat in einem Ted Talk die Verbindung von Poker und Entscheidungen der Geschäftswelt unter Unsicherheit herausgestellt. Dabei gibt es große Parallelen mit der Situation von THE bei der Beschaffung von Flüssiggas.

Zunächst einmal muss klargestellt werden, dass Poker nicht – wie häufig angenommen – ein Glücksspiel ist. Es ist noch nicht einmal ein Kartenspiel mit Trümpfen, Superkräften etc. Die Karten werden nur entgegengenommen und bewertet. Das eigentliche Spiel findet immer in den Bewertungen statt. Es sitzen Leute am Tisch und bewerten die Situation. Sie treffen Entscheidungen.

Bei allen Entscheidungen gibt es zwei zentrale Bedingungen: Unsicherheit und unvollständige Informationen. Da wir nicht in die Zukunft schauen können, ist jede zukunftsgerichtete Entscheidung mit Unsicherheit verbunden und da zum Entscheidungszeitpunkt nicht alle Informationen vorhanden sind, hat der Entscheider nur unvollständige Informationen. Beide Parameter werden so auch im Poker"spiel" abgebildet: die Unsicherheit durch die Karten und die Frage, welche Karte als nächste kommt und die unvollständige Information sind die Karten und Strategien der Gegner sowie ggf. ein Bluff des/der Gegner(s). Die Aktivitäten von THE waren allerdings wohl sehr voraussehbar, denn es wurde Gas zu jedem Preis beschafft. Andere Marktbegleiter konnten daher ihre Handelsstrategien hieran anpassen und optimieren. Dies wäre ungefähr so, wie wenn ein Spieler seine Karten beim Poker offenlegen würde, während die anderen ihre Karten weiterhin verdeckt halten würden. 

Ein professioneller Pokerspieler verdient sein Geld hauptsächlich damit, dass er nicht mitspielt. Jan Heitmann beschreibt dies so: "In 80 Prozent der Fälle habe ich als professioneller Pokerspieler meine Karten weggeworfen. Man könnte sagen: Ich habe 15 Jahre sehr gut damit gelebt, dass ich disziplinierter Karten wegwerfe als andere Leute". Eine der Hauptaufgaben eines guten Risikomanagers ist es, erst einmal die schlechten Situationen, Anfragen, Investitionen etc. auszusortieren. Keine Ressourcen verschwenden. Genau diese Überlegung war THE wohl fremd, denn es musste den Gasspeicher auffüllen – um jeden Preis und ohne Absicherung möglicher Risiken.

Die wirklich erfolgreichen Menschen sagen zu fast allem "Nein"

Hinzu kommt, dass die Risiken nicht THE trägt, sondern ein Dritter, nämlich der Staat. Und der wiederum kann das Risiko wieder transferieren, nämlich auf den Gaskunden. Das heißt, THE belastet mit den Entscheidungen nicht die eigene Risikotragfähigkeit, sondern trifft Entscheidungen, ohne jegliches Risiko. Dies wurde bereits sehr anschaulich im bekannten "No-free-Lunch-Theorem", womit ein risikoloser Gewinn bei einer Anlage an der Börse bezeichnet wird, zusammengefasst. Unter normalen Umständen gibt es aber keine Gewinne, ohne dass dabei ein Risiko eingegangen werden muss. Bei THE gibt es hingegen – entgegen dem weitverbreiteten Theorem, das das Gegenteil besagt – bis zum heutigen Tage ein kostenloses Mittagessen. Denn das Risiko trägt ein Dritter.

Warren Buffet sagte einmal: "Die wirklich erfolgreichen Menschen sagen zu fast allem "Nein". Denn nicht jede sich bietende Investitionsmöglichkeit ist auch eine gute Investition." Den guten Pokerspielern sind kurzfristige Einzelresultate egal. Vielmehr geht es darum, die Entscheidungen insgesamt zu verbessern. Welche Folgeeffekte die kurzfristige Beschaffung durch THE hat, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Experten warnen außerdem bereits vor dem Winter 2023/2024, weil bis dahin auch die Atomkraftwerke abgeschaltet werden sollen und sich die Verhandlungsposition – garniert mit unter Umständen auch handwerklichen Risikomanagementfehlern (es sei hier nur an die Risikomanagement-Weisheit "Lege nicht alle Eier in einen Korb" erinnert) – noch weiter verschlechtern könnte. 

Beim Poker geht es immer darum, bereits den nächsten oder übernächsten Schritt vorauszuahnen bzw. zumindest die Eintrittswahrscheinlichkeiten abzuwägen und zu überlegen, welche Entscheidung getroffen werden soll. Im Risikomanagement spricht man hier vom "Lernen aus der Zukunft" und ist bemüht, potenzielle Szenarien in der Zukunft zu antizipieren. Oder auch Maßnahmen umzusetzen, damit bestimmte Szenarien vermieden werden oder eben gerade eintreten.

Speziell für die nächsten größeren Beschaffungen sollten sich THE und – vor allem – die Bundesregierung in die grundlegenden Werkzeuge und Schritte des Risikomanagement sowie der Entscheidung unter Unsicherheit einarbeiten. Außerdem sollte überprüft werden, inwiefern den LNG-Produzenten im Rahmen des EU-Green Deals trotzdem eine sinnvolle Mittel- und Langfristperspektive für Investitionen aufgezeigt werden kann. Nur so bewerten weitere Player ihre Teilnahme an LNG-Lieferungen in die EU und im Speziellen nach Deutschland als "positiv" und dürften damit dazu beitragen, die negativen finanziellen Begleiterscheinungen geringzuhalten.

Und wer weiß: Wenn es in Russland zu einem politischen Machtwechsel und infolgedessen vielleicht auch einem kompletten Abzug aus der Ukraine kommt, wäre unter Umständen auch eine Wiederaufnahme der russischen Gaslieferungen denkbar. Wäre dies ein schwarzer Schwan oder lediglich ein "dreckiger" weißer Schwan? Oder wäre es ein "Grey Rhino"? Das graue Nashorn ist eine Metapher für die Bedrohungen bzw. Risikoszenarien, die wir zwar sehen und erkennen, gegen die wir aber nichts unternehmen. Das graue Nashorn ist das Gegenstück zu zwei weiteren Metaphern. Der Elefant im Raum normalisiert das Nichtstun und Nichtreden. Der schwarze Schwan gibt den Menschen eine Ausrede für das Ignorieren von Problemen des grauen Nashorns, die viele Menschen kommen sahen und vor denen sie gewarnt wurden. Graue Nashörner zeigen sich unter anderem in Form von Naturkatastrophen, Bankenpleiten , Energiekrisen und Finanzskandalen.

Egal ob nun schwarzer Schwan, graues Nashorn, dreckiger weißer Schwan oder was auch immer: Ohne präventives und wirksames Risikomanagement-Know-how lässt sich kein Unternehmen und auch kein Projekt erfolgreich führen - egal ob staatlich oder privatwirtschaftlich veranlasst!

Der einzige Unterschied ist, dass privatwirtschaftliche Unternehmen vom brutalen Korrektiv der Wirklichkeit hierauf aufmerksam gemacht werden und am Ende möglicherweise Insolvenz anmelden müssen. Bei Staaten existiert dieses Korrektiv zwar grundsätzlich auch, wie uns die Analysen von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff ("This time is different") zeigen, die wesentliche Finanzkrisen der letzten acht Jahrhunderte in über 66 Ländern untersucht haben, jedoch kann die Risikotragfähigkeit etwas flexibler korrigiert und angepasst werden. Doch auch Regierungen haben einen Eid darauf geschworen, dass sie mit dem ihnen anvertrauten Geld der Steuerzahler sorgsam umgehen und nicht durch amateurhaftes Risikomanagement verschleudern.

Autoren:

Dr. Christian Glaser ist promovierter Risikomanager und als Generalbevollmächtigter eines namhaften Finanzdienstleisters tätig. Er ist außerdem Dozent an mehreren Hochschulen und Buchautor mehrerer Fachbücher sowie zahlreicher Fachveröffentlichungen in den Bereichen Finanzdienstleistungen, Unternehmensführung und Management, Controlling sowie Risikomanagement.

Frank Romeike ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der RiskNET GmbH – The Risk Management Network. Er war Chief Risk Officer (CRO) der IBM und hat einige Standardwerke zum Thema Risikomanagement und Stochastik veröffentlicht. Außerdem hat er Lehraufträge an mehreren Hochschulen angenommen.

 

[ Bildquelle Titelbild: Adobe Stock.com / Karen Roach ]
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