Risikowahrnehmungsgesellschaft

Pandemie der kollektiven Hysterie


Risikowahrnehmungsgesellschaft: Pandemie der kollektiven Hysterie Kolumne

Risiko ist immer ein Konstrukt unserer Wahrnehmung, da die Realität permanent durch die Wahrnehmung erschaffen wird. Und unsere höchst individuelle Risikowahrnehmung ist davon abhängig, was unsere Sinne zu einem Gesamtbild verdichten. Übertragen auf die Pandemie der kollektiven Hysterie rund um Covid-19 ängstigen sich viele Menschen zu Tode und blenden damit die wahren Risiken aus. Das geht auch unseren politischen Entscheidungsträgern nicht anders. Entscheidungen werden nicht basierend auf rationalen Daten und Fakten getroffen, sondern basierend auf einer eher emotional und subjektiv getriebenen Wahrnehmung der Realität.

Unser (Halb-)Wissen, unsere Emotionen, unsere Moralvorstellungen und Meinungen von Experten und selbsternannten Experten bestimmen dieses Konstrukt der Risikowahrnehmung. Was der eine "Experte" als Risiko wahrnimmt, muss für den anderen "Experten" noch lange kein Risiko sein. Und diese hohe Volatilität der Bewertung von Szenarien führt bei vielen Menschen zu Unsicherheit und Angst.

Risikowahrnehmung basiert nicht selten auch auf Hypothesen. Dadurch werden häufig für gleiche Risiken unterschiedliche Vermutungen und Theorien aufgestellt. So spricht Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztliche Bundesvereinigung und Facharzt, im Zusammenhang mit Covid-19 von einer medialen Infektion und fordert einen schnellen Wechsel vom Panikmodus in einen rationalen Modus. Viele Wissenschaftler, wie beispielsweise der britische Epidemiologe Tom Jefferson, der am renommierten Cochrane Institut in Rom forscht, kann keinerlei Besonderheiten beim Covid-19-Virus erkennen, außer die Tatsache, dass es ein neuartiger Virus ist. Covid-19 sei wie ein neues Automodell, aber eher vergleichbar mit einem Kleinwagen, so Jefferson.

Während viele europäische Länder die Strategie der Quarantäne verfolgen und damit neue und andere Risiken eingehen, setzte die britische Regierung - basierend auf Empfehlungen britischer Epidemiologen - auf das Konzept der "Herden-Immunität", nach der Ansteckungen eben gerade nicht verhindert werden sollen. Ziel ist eine schnelle und flächendeckende Immunisierung der Bevölkerung. Risikogruppen werden hingegen isoliert. [Update 19.03.2020: Epidemiologen des Londoner Imperial College haben in der Zwischenzeit zwei potenzielle Strategien in Form von Szenarien der britischen Regierung präsentiert: Eine Verlangsamung oder Abschwächung der Epidemie durch soziale Isolation würde die Belastung des Gesundheitssystems um zwei Drittel senken und die Todesfälle um die Hälfte. Regierungschef Boris Johnson hat daher in den letzten Tagen eine Kehrwende hingelegt und auf eine Strategie der Verzögerung umgeschaltet.]

Keine Fakten zählen – sondern Vermutungen

Täglich werden wir mit neuen Statistiken und Zahlen bombardiert, von denen seriös arbeitende Wissenschaftler wissen, dass sie massiv fehlerbehaftet sind. So ist die Grundgesamtheit der infizierten Menschen schlicht und einfach weder in China noch in irgendeinem anderen Land der Welt bekannt. So werden in der Statistik für Deutschland 15.320 Personen (Update Stand: 20.03.2020, 05:50 Uhr) als infiziert erfasst. Weltweit gelten 244.517 Personen als infiziert (Stand: 20.03.2020, 05:30 Uhr). Wegen der großen Unsicherheiten bei Letalität und der Verdopplungsrate schätzen Mathematiker und Mediziner die reale Rate um einen Faktor zehn oder höher ein. Statt 15.320 Personen sind möglicherweise in einem "realistic case"-Szenario 100.000 Menschen infiziert und in einem "worst case"-Szenario noch viel mehr.

Basierend auf dieser Grundgesamtheit und der erfassten Todesfällen, bei denen übrigens die Kausalität nicht eindeutig ist, werden anschließend Sterblichkeitsquoten berechnet und häufig unreflektiert kommuniziert. Bei 44 Todesfällen in Deutschland (Update Stand: 20.03.2020, 05:50 Uhr) könnten wir eine Quote von 0,29 Prozent berechnen. Bei 100.000 infizierten Personen, was wohl das realistischere Szenario ist, beträgt die Quote nur noch 0,017 Prozent [Update vom 30.06.2020: Basierend auf aktuellen immunologischen und serologischen Studien liegt die Letalität von Covid-19 bei insgesamt rund 0.1 Prozent und damit im Bereich einer starken Influenza. Das Risiko für Menschen im Schul- und Arbeitsalter liegt selbst in den weltweiten “Hotspots” zumeist im Bereich einer täglichen Autofahrt zur Arbeit]. Seriöse Wissenschaftler und Politiker sollten auf diese potenzielle Bandbreite hinweisen und unseriös ermittelte Statistiken nicht als letzte "Wahrheit" verkaufen. Denn die Letalität von Covid-19 werden wir erst in einiger Zeit schätzen können. Und auch diese (finale) Zahl muss kritisch hinterfragt werden, da die Todesfälle auf unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden können und die Kausalität keinesfalls eindeutig sein wird.

Seriöse Risiko- und Krisenkommunikation wäre wichtig

Die aktuelle Risiko- und Krisenkommunikation führt vor allem zu Angst, Hysterie und Panik und weiterer Unsicherheit. Erschwerend kommt hinzu, dass die Risikokommunikation zwischen den Ländern nicht abgestimmt wird. Die Risikokommunikation in der EU ist – milde formuliert – nicht existent und eine einzige Katastrophe. Der Grund ist einfach: Wirksames (!) und präventives Krisen- und Risikomanagement existiert weder in der EU noch in vielen Nationalstaaten.
Wünschenswert wäre eine transparente und objektive Risikokommunikation basierend auf Fakten und Daten. Und zwar basierend auf Fakten und Daten, die fundiert sind. Wissenschaftler und Politiker sollten den hohen Grad an Unsicherheit zugeben und keine Vermutungen als Fakten kommunizieren. Und wir Bürger sollten nicht jede Verschwörungstheorie und Fake News glauben oder gar über die sozialen Medien verteilen.

Was sind Fakten? So ist bekannt, dass durch die jährliche Influenza-Epidemien und -Pandemien weltweit rund 500 Millionen Menschen erkranken. Bei Covid-19 geht die Statistik aktuell von 10,5 Millionen Infektionen aus (Stand: 02.07.2020, 09:00 Uhr) aus. Davon sollen rund 5,5 Millionen Menschen wieder genesen sein. Rund eine halbe Millionen Menschen sollen an oder mit SARS-COV-2 verstorben sein (vielfach ohne Kausalitätsnachweis, was aber für eine Risikobewertung äußerst relevant ist). Das Medianalter der Verstorbenen liegt in der Mehrzahl der Länder bei über 80 Jahren (in Schweden sogar bei 86 Jahren) und nur circa 4 Prozent der Verstorbenen hatten keine ernsthaften Vorerkrankungen.

Basierend auf den Analysen des Robert-Koch-Instituts, einer selbstständigen deutschen Bundesoberbehörde für Infektionskrankheiten, stecken sich im Verlauf der jährlichen Influenzawellen 5 bis 20 Prozent der Grundgesamtheit aller Bundesbürger an, d.h. zwischen 4 und 16 Mio. Menschen allein in Deutschland. Weltweit sterben in jedem Jahr zwischen 290.000 bis 650.000 Menschen in der Folge eines Influenza-Virus. In der Folge der starken Mutation der Influenzaviren, sind die Epidemien sehr volatil, d.h. mal harmloser und mal aggressiver. Die Todesursache kann in der Regel auf eine bakterielle Lungenentzündung in der Folge einer Schädigung der Lunge durch die Influenzaviren zurückgeführt werden.

Zu den Fakten gehört auch, dass in der Folge der Influenzasaison im Winter 2017/2018 in Deutschland – basierend auf Schätzungen des Robert-Koch-Instituts – 25.000 Menschen kausal durch Influenzaviren gestorben sind. Die von Virologen geschätzte (finale) Letalität liegt mit 0,3-0,7 Prozent (case fatality rate, CFR) nur gering über der Influenza und weit unter der Pandemie von SARS-1 aus dem Jahr 2002/2003, die damals weltweit bei 9,6 Prozent lag. Die Todesrate variiert sehr stark zwischen verschiedenen Altersgruppen.

Zu den Fakten gehört auch, dass laut Analysen des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) in Deutschland zwischen 400.000 und 600.000 Patienten an Krankenhausinfektionen erkranken, die zu einem großen Teil vermieden werden können. Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) zeigen, dass zwischen 15.000 bis 40.000 Menschen in der Folge dieser Infektion sterben.

Ein Risikoparadoxon geht um

Eine Vielfalt an praktischen Beispielen zu diesem "Risikoparadoxon" der Risikowahrnehmung liefert Ortwin Renn, wissenschaftlicher Direktor am Institut für Transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam und Inhaber des Lehrstuhls "Technik- und Umweltsoziologie" an der Universität Stuttgart. So führt Renn aus, dass in den letzten 25 Jahren ungefähr so viele Menschen an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK), einer beim Menschen sehr selten auftretenden, tödlich verlaufenden und durch atypische Eiweiße gekennzeichnete übertragbare spongiforme Enzephalopathie (TSE), gestorben sind, wie am unachtsamen Trinken von parfümierten Lampenöl. In Deutschland starben seit dem Jahr 1990 fünf Menschen an einer Vergiftung durch Lampenöl, meist Kinder, die die bunten und duftenden Flüssigkeiten für Saft hielten – und kein einziger Mensch an CJK [vgl. Renn 2014, S. 33].

Weitere Beispiele liefert Renn zur Einschätzung von menschlichen Gesundheitsrisiken. Er zeigt auf, dass seit dem 18. Jahrhundert unsere Lebenserwartung kontinuierlich ansteigt. Die Chancen, deutlich älter als achtzig Jahre alt zu werden, wachsen von Jahr zu Jahr. Dennoch geben regelmäßig in Studien die befragten Menschen an, ein risikoreiches Leben zu führen. Hierbei wird von den Befragten nicht selten ausgeblendet, dass die primären Ursachen (Rauchen, falsche Ernährung, mangelnde Bewegung, Alkohol) von den Menschen selbst gesteuert und beeinflusst werden kann [vgl. Romeike/Hager 2020].

Ähnlich paradox verhält es sich mit der Bewertung von Unfallrisiken. Die Wahrscheinlichkeit, an den Folgen eines Arbeits- oder Verkehrsunfalles zu sterben, ist so gering wie nie zuvor. Das Sicherheitsniveau in der Luftfahrt ist bei vielen Airlines höher als 99,99998 Prozent. Das Restrisiko ist kleiner als 0,00002 Prozent [vgl. Romeike/Hager 2020]. Statistisch ist das gleichbedeutend mit einem Unfall pro 100 Millionen Flüge. Die Gefahr, im Haushalt bzw. in der Freizeit zu verunglücken, ist deutlich höher. Doch unsere Risikowahrnehmung ist verzerrt. Die Autobahnfahrt auf dem Weg zum Flughafen ist deutlich risikobehafteter als der anschließende Langstreckenflug quer über den Atlantik.

Gefühlter Kontrollverlust führt zu Angst und Panik

Menschen lassen sich immer wieder von Katastrophenmeldungen in den Medien und einer nicht ausgewogenen Risikokommunikation beeinflussen. So sind sie im Glauben gefangen, das Leben sei eine einzige Abfolge bedrohlicher Ereignisse. Sie ängstigen sich zu Tode und sind im Glauben gefangen, dass in der Folge von Covid-19 das Ende der Menschheit bevorsteht.

Und die Politik befeuert diese schiefe Risikowahrnehmung durch eine nicht faktenbasierte Risikokommunikation, die sich zudem noch von Tag zu Tag verändert. Ortwin Renn hat dies vor vielen Jahren aufgezeigt. Wenn ich die Wahrnehmung eines Risikos übertreibe und mehr Vorbereitungen treffe, als erforderlich, so wird man einem Politiker schlimmstenfalls die Verschwendung von Steuergeldern vorwerfen. Politisch werde ich jedoch überleben. Falls ich hingegen ein Szenario oder ein Risiko unterschätze und zu wenige Vorbereitungen getroffen habe, dann steigt das individuelle Risiko eines Rücktritts.

Die nicht faktenbasierte Krisenkommunikation von selbsternannten Experten führt vor allem zu Unsicherheit. Und Unsicherheit erzeugt Angst. Und ein gefühlter Kontrollverlustes führt zu noch mehr Angst und in der Folge zu Hamsterkäufen und völlig irrationalen Entscheidungen.

Bewusst oder unbewusst angewandte kognitive Prozesse führen zu einem Risikokonstrukt. Laien nehmen daher Risiken anders wahr als Experten. Daher haben vor allem (seriöse) Experten eine hohe Verantwortung bei der adäquaten Kommunikation von Risiken. Die Risikokommunikation im Zusammenhang mit Covid-19 sollte faktenbasiert erfolgen. Wenn Fakten nicht bekannt sind (siehe beispielsweise extrem hohe Unsicherheit bei der Anzahl der Covid-19-Infektionen), sollten diese auch nicht als Tatsachen kommuniziert werden.

Nur so können wir der Risikoblindheit entgegenwirken. So sollte vor allem auch Wissenschaftler bekannt sein, dass Intuition in komplexen Situationen ein schlechter Ratgeber ist. Epidemien und Pandemien sind komplexe System. Potenzielle zukünftige Szenarien sollten daher auch mit Methoden antizipiert werden, die mit Komplexität umgehen können. Hier existieren viele Werkzeuge (siehe System Dynamics oder die stochastische Szenarioanalyse) mit denen komplexe System simuliert werden können und die eine Bandbreite potenzieller Szenarien aufzeigen. Diese Bandbreiten an möglichen Szenarien bilden die Grundlage für daten- und faktenbasierte Entscheidungen [vgl. Romeike/Spitzner 2013].

Fazit: Ausbruch aus der Risikowahrnehmungsgesellschaft

Sie werden mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit nicht in der Folge einer Covid-19-Infektion sterben. Der Grund ist einfach: Der moderne Mitteleuropäer stirbt vorwiegend an seinen schlechten Gewohnheiten (Ernährung, Bewegungsmangel, Rauchen etc.), die beispielsweise zu einer kardiovaskulären Erkrankung führen. So sterben allein in Deutschland jedes Jahr mehr als 100.000 Menschen in der Folge von Tabakkonsum, das sind täglich rund 300 Personen. Für das Jahr 2017 kam eine von der Bill & Melinda Gates Foundation geförderte Studie zu dem Ergebnis, dass elf Millionen Todesfälle sowie 255 Millionen in Krankheit verbrachte Lebensjahre auf schlechte Ernährung zurückzuführen sind. Unsere Furcht vor Covid-19 verrät vor allem einen Mangel an Realitätssinn in unserer Risikowahrnehmungsgesellschaft. Und dies führt in der Konsequenz zu dem Ergebnis, dass das Augenmaß für eine objektive Wahrnehmung der Risiken verlorengeht. "Je mehr wir in Risikomündigkeit investieren, desto größer ist die Chance, dass wir aus der Falle der Risikowahrnehmungsgesellschaft ausbrechen können", so der Risikoforscher Ortwin Renn.

Literatur

  • GBD (2017) Health effects of dietary risks in 195 countries, 1990–2017: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2017
  • Renn, O. (2014): Das Risikoparadox – Warum wir uns vor dem Falschen fürchten, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2014.
  • Romeike, F./Spitzner, J. (2013): Von Szenarioanalyse bis Wargaming - Betriebswirtschaftliche Simulationen im Praxiseinsatz, Wiley Verlag, Weinheim 2013.
  • Romeike, F./Hager, P. (2020): Erfolgsfaktor Risikomanagement 4.0: Methoden, Prozess, Organisation und Risikokultur, 4. komplett überarbeitete Auflage, Springer Verlag, Wiesbaden 2020.

 

[ Bildquelle Titelbild: Adobe Stock ]
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