Überbewertung trägt Merkmale der Blasenbildung

"What were you thinking?"


Überbewertung trägt Merkmale der Blasenbildung: "What were you thinking?" Kolumne

Im Mai 2023 informierte der US-Halbleiterkonzern Nvidia Corporation turnusgemäß über die Geschäftszahlen. Die unbestritten beeindruckenden Ergebnisse und der Ausblick veranlassten Anleger, bei Anteilscheinen des kalifornischen Unternehmens kräftig zuzugreifen. Beflügelt von der Phantasie eines künftig noch stärker boomenden Geschäfts mit Künstlicher Intelligenz (KI) verzeichnet die Aktie des Marktführers für entsprechende Prozessoren einen spektakulären Tagesgewinn von 24,3%.

Im Windschatten des so ausgelösten KI-Hypes war der Technologiesektor insgesamt stark gefragt. Während traditionelle US-Aktienindizes wie der Dow Jones mit +3,8% (Hinweis: Alle Marktdaten in diesem Bericht jeweils zum Stand 30.06.2023; Quelle: Bloomberg. Zahlenangaben beziehen sich auf die Vergangenheit. Frühere Wertentwicklungen sind kein verlässlicher Indikator für künftige Wertentwicklungen) oder der Russell 2000 mit 7,2% seit Jahresbeginn eher moderate Wertentwicklungen aufweisen, liegt der Technologieindex Nasdaq mit 38,8% im Plus. So ist eine kaum für mögliche gehaltene Rückkehr jener Marktbedingungen zu konstatieren, die über weite Strecken der Casinojahre 2020 und 2021 dominierten. Die Korrekturen des Jahres 2022 schienen das Ende der einseitigen Outperformance von Momentum- und Wachstumsstrategien sowie von Unternehmen hoher Marktkapitalisierung zu markieren. Doch erfreut sich genau dieser Anlagestil nun eines bemerkenswerten Comebacks.  

Die starke Divergenz der Wertentwicklung zwischen den "FAANG+" Aktien einerseits und "allen anderen Aktien" andererseits wirkt ungesund. So erklären Facebook (Meta), Amazon, Apple, Tesla, Google (Alphabet), Microsoft und Nvidia den kompletten Wertzuwachs des S&P 500 seit Jahresbeginn. Ohne diese sieben Aktien ist der Leitindex über das erste Halbjahr 2023 hinweg praktisch unverändert. Über die erste Jahreshälfte verbuchte Nvidia ein Kursplus von 189%. Meta-Aktien legten 138% zu, Tesla zeigte immerhin noch ein Gewinnplus von 113%.  Im Zuge dieser Kursgewinne bauen sich erneut astronomische Bewertungen auf, die stark an die abenteuerlichen Werte der Jahre 2020-2021 oder an die Dot.com-Blase der Jahre 1999-2000 erinnern. 

S&P-500-Bestandteil Kurs-Gewinn-VerhältnisKurs-Buchwert-VerhältnisKurs-Umsatz-VerhältnisPerformance 2023
Top-7-Werte77,4 20,312,1+89,1%
Restliche 493 Werte28,836,63,8+8,3%

Tab. 01: Die Performance des US-Aktienmarktes wird von nur wenigen Titeln getragen [Hinweis: Zahlenangaben beziehen sich auf die Vergangenheit. Frühere Wertentwicklungen sind kein verlässlicher Indikator für künftige Wertentwicklungen; Quelle: Bloomberg; Stand: 30.06.2023; ungewichtete Durchschnittswerte]

Die hohen Wertsteigerungen der FAANG+ Aktien resultieren in einer immer höheren Konzentration der Top 10-Werte im S&P 500. Deren Gewichtung am Gesamtindex erreicht inzwischen ein Drittel und übersteigt damit den entsprechenden Vergleichswert zum Hochpunkt der Internetblase im Jahr 2000. Die enge Marktbreite kann als Warnsignal für die Aktienmärkte interpretiert werden. Werden Kursgewinne von nur noch wenigen, hochkapitalisierten Unternehmen angeführt, ist meist nicht von einem intakten Bullenmarkt auszugehen, der über kraftvolle Reserven verfügt. In der Vergangenheit waren marktenge Rallyes oft Vorbote nachfolgender Aktienmarktschwäche.

Offensichtliche Parallelen zum Hype der Internetblase 1999-2000 zeichnen sich im KI-Hype insbesondere bei den Bewertungen ab. Die Aktie von Nvidia notiert aktuell bei einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 205, einem Kurs-Buch-Verhältnis von 43 und einem Kurs-Umsatz-Verhältnis von 40. 

Abb. 01: Bewertungsexplosionen im KI-BereichAbb. 01: Bewertungsexplosionen im KI-Bereich

In der Euphorie der Jahrtausendwende schien für viele Internetkonzerne jeder beliebige Preis angemessen. Es fanden sich zahllose Erklärungen und Rechtfertigungen, warum althergebrachte Bewertungsmaßstäbe für "die neue Zeit" nicht mehr geeignet seien. Heute vorgebrachte Narrative zu KI ähneln den damaligen Argumentationsmustern verblüffend stark. Gewiss hat KI bei objektiver Analyse sehr hohes Potential für neue Geschäftsfelder, Produktivitätsgewinne und wahre Innovationsprünge in vielen Anwendungsbereichen. Doch scheinen sich Märkte in der Frühphase von technologischen Weiterentwicklungen durchaus schwer zu tun, realistische Einwertungen des ökonomischen Potentials vorzunehmen. 
    
Mit einem aktuellen Kurs-Umsatz-Verhältnis von 40 liegt die Bewertung der Nvidia-Aktie unserer Einschätzung nach weit außerhalb jeder nachvollziehbaren Norm. Selbst unter optimistischsten Grundannahmen für die künftige Geschäftsentwicklung des Technologiekonzerns scheint die Bepreisung der Aktie von wenig realistischen Hoffnungswerten getragen. Die aufgebaute Überbewertung trägt Merkmale der Blasenbildung vieler Internetaktien zur Jahrtausendwende. Einige der am stärksten geliebten und bewunderten Internetstars zu dieser Zeit wiesen dabei aber weniger extreme Überbewertungen auf: Sun Microsystems, einer jener Highflyer, hatte in der Spitze ein Kurs-Umsatz-Verhältnis von 10. Der damalige Unternehmenschef Scott McNealy brachte die in dieser Bewertung reflektierte Irrationalität und Maßlosigkeit der Anleger einige Jahre später wie folgt auf den Punkt:

"At 10 times revenues, to give you a 10-year payback, I have to pay you 100% of revenues for 10 straight years in dividends. That assumes I can get that by my shareholders. That assumes I have zero cost of goods sold, which is very hard for a computer company. That assumes zero expenses, which is really hard with 39.000 employees. That assumes I pay no taxes, which is very hard. And that assumes you pay no taxes on your dividends, which is kind of illegal. And that assumes with zero R&D for the next 10 years, I can maintain the current revenue run rate. Now, having done that, would any of you like to buy my stock at $64? Do you realize how ridiculous those basic assumptions are? You don’t need any transparency. You don’t need any footnotes. What were you thinking?"

Scott McNealy, ehemaliger CEO Sun Microsystems

Das spektakuläre Platzen der Internetblase riss nach 2000 viele Aktien in den Abgrund, bis hin zu zahlreichen Totalverlusten. Der Markt zeigt so immer wieder seine effiziente Rolle in der Liquidation von bloßen Illusionen. Doch auch viele Unternehmen mit damals tragfähigem Geschäftsmodell und hoher Profitabilität, die bis heute bestehen und erfolgreich sind, brauchten lange Zeit, um das 1999 oder im Frühjahr 2000 erreichte Kursniveau wiederzuerlangen.

Abb. 02: Tech-Titel nach Platzen der Dot-com Blase fast 20 Jahres "totes Geld"Abb. 02: Tech-Titel nach Platzen der Dot-com Blase fast 20 Jahres "totes Geld"

UnternehmenKurshoch aus 2000 wieder erreicht in …
Oracle2014
Microsoft2015
SAP2015
AMD2019
Qualcomm2019
Cisconicht wieder erreicht
Nokianicht wieder erreicht
Intelnicht wieder erreicht
Infineonnicht wieder erreicht
Dt. Telekomnicht wieder erreicht
Juniper Networksnicht wieder erreicht

Tab. 02: Einige Aktien haben sich nach Platzen der Tech-Blase noch immer nicht erholt [Quelle: Bloomberg; Stand: 30.06.2023]

Beispielsweise war eine zum Kurshoch im Jahr 2000 getätigte Anlage in Microsoft Aktien 15 Jahre lang "totes Geld". Gut möglich, dass sich auch Aktionäre von Nvidia oder anderen hoch bewerteten Technologieunternehmen einst die Frage stellen lassen müssen: "What were you thinking?".

Investmentimplikation: Unsere immer wieder angemahnte, notwendige Unterscheidung zwischen "guten Unternehmen" und "guten Aktien" kommt hier zum Tragen. Gewiss zeichnen sich die FAANG+ Aktien heute durch hohe Innovationskraft, Profitabilität und äußerst robuste Geschäftsmodelle aus. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden diese Unternehmen auch über die kommenden Jahre operativ erfolgreich sein. Doch überzeichnet der heute gehandelte Preis den wahrscheinlichen Wert künftig erzielbarer Investmentrenditen aus einer Anlage in diesen Aktien. Die Unterscheidung von "Wert" und "Preis" bleibt innerhalb unserer Investmentdisziplin ein nicht verhandelbares Grundprinzip. 

Naturgesetze im Portfolio: Die Bewertungen von heute sind die Renditemöglichkeiten von morgen

Es erstaunt, dass Kursfeuerwerke, wie sie nur unter den Extrembedingungen der Casinojahre 2020-21 mit weit geöffneten Geldschleusen möglich schienen, auch weiterhin und nach dem Ende des Rauschs des billigen Geldes gezündet werden können. Waren entsprechende Bewertungsblasen mit Null- und Negativzinsen und den gigantischen Geldmengen, mit denen die Märkte überfüttert wurden, zumindest nachvollziehbar, mutet es im Jahr 2023 mit Leitzinsen der US-Notenbank von 5,25% nicht intuitiv logisch an, wenn sich faktisch identische Muster im Marktverhalten wiederholen. 

Grundsätzlich bleiben die Aktienmärkte, speziell in den USA, teuer. Alle gängigen Indikatoren, die sich zur Beurteilung der Bewertung des Gesamtmarkts eignen, zeigen für die US-Märkte hohe bis sehr hohe Überbewertungen. Historisch gingen hohe Ausgangsbewertungen zum Beginn einer Investitionsperiode stets mit nachfolgenden niedrigen, enttäuschenden Gesamtertragserwartungen einher. Auf diese stabile und verlässliche Beziehung hatten wir in vergangenen Quartalsberichten immer wieder hingewiesen. Beispielhaft liegt Warren Buffets bevorzugter Bewertungsindikator, die Gesamtmarktkapitalisierung im Verhältnis zur Bruttowertschöpfung, deutlich oberhalb des langfristigen Durchschnitts. 

Abb. 03: Marktbewertungen weiter deutlich oberhalb historischer NormalwerteAbb. 03: Marktbewertungen weiter deutlich oberhalb historischer Normalwerte

Auf Basis historischer Zusammenhänge erwerben Anleger heute mit einer Investition in den breiten US-Aktienmarkt niedrige Gesamtertragserwartungen. Der erstaunlich robuste Zusammenhang zwischen Ausgangsbewertung und Folgeertrag erfordert keine Prognosen über die Unternehmensgewinne, wirtschaftliche Entwicklungen oder Margen der Aktiengesellschaften und ist zudem unabhängig vom vorherrschenden Zinsniveau. 

Abb. 04: Hohes Bewertungsniveau legt niedrige Ertragsaussichten naheAbb. 04: Hohes Bewertungsniveau legt niedrige Ertragsaussichten nahe

Die kontinuierliche Ausweitung der Aktienmarktbewertungen über die letzten Jahrzehnte wird vielfach als direkte Folge der Absenkung des (realen) Zinsniveaus interpretiert. Dieser mögliche Erklärungsansatz wirkt plausibel, ist jedoch nicht universell robust: Beispielsweise waren etwa in Japan im langfristigen Abwärtstrend der Zinsen keine entsprechenden Bewertungs-ausweitungen zu verzeichnen. 

Möglicherweise kehren die Bewertungen aber auch gar nicht zuverlässig zum Mittelwert zurück. Möglicherweise stellen sich im Zeitverlauf stetig höhere Bewertungsmultiplikatoren am Aktienmarkt ein, weil immer größere Geldmengen um werttragende Investitionsgelegenheiten in knappen Sachwerten konkurrieren. Diese Vermutung aus einer "monetären" Bewertungssicht scheint zumindest seit 1971, seit der Entankerung des Geldes von seiner Basis (dem Gold), nicht vollständig abwegig. Anders als Staatsschulden sind Unternehmensgewinne (und deren Voraussetzungen, wie etwa Produktivitätssteigerungen, Innovation, Patente, gute Ideen, Fleiß, unternehmerische Initiative, Verbesserung der Rahmenbedingungen durch intelligente Politik, usw.) nicht beliebig vermehrbar. 

So ist denkbar, dass Aktienbewertungen im Fiat-Geldsystem mit Verwässerung der Geldmenge einem kontinuierlichen Aufwärtstrend unterliegen. Wie Geldmengenausweitung steigende Güterpreise zur Folge hat, führt sie auch zu Vermögenspreisinflation. Identische Zusammenhänge wirken auf die realen Preise und Bewertungen von Immobilien, landwirtschaftlichen Nutzflächen, Sammlerobjekten oder Kunst. Ein vergleichbarer Bezug, der den schleichenden realen Kaufkraftverlust zeigt, ist in der Anzahl der Arbeitsstunden zu beobachten, deren Gegenwert für den Erwerb einer Einheitsgröße von Aktien nötig ist. Für den Kauf eines Anteils am S&P 500 mussten Arbeitnehmer in den USA Ende 2020 zu durchschnittlichen Löhnen 146 Arbeitsstunden aufwenden. Über viele Jahrzehnte lag dieser Wert stabil zwischen lediglich 20 und 30 Arbeitsstunden, nach 1971 zeigt das Verhältnis aber einen rasant beschleunigten Anstieg. 

Gegenteilige Zusammenhänge bestanden über die letzten Jahrzehnte vielfach bei Konsumgütern, deren Preise durch Globalisierung, Automatisierung und Fortschritt strukturell gedrückt blieben. Für viele Güter musste im Zeitablauf entsprechend weniger Arbeitszeit aufwendet werden. Ausnahmen bestätigen aber auch diese Regel: In Deutschland sind für den Erwerb eines VW Golfs im Jahr 2023 zum durchschnittlichen Bruttoverdienst 1.280 Arbeitsstunden nötig - und damit 100 mehr als im Jahr 1976

Abb. 05: Geldmengenausweitung seit Anfang der 1970er Jahre als mögliche Erklärung für steigendes BewertungsniveauAbb. 05: Geldmengenausweitung seit Anfang der 1970er Jahre als mögliche Erklärung für steigendes Bewertungsniveau

Die Untersuchung der These einer monetär bedingten Bewertungsexpansion bleibt schwierig, weil die Gegenprobe nach 1971 nicht geprüft werden kann. In den letzten fünf Jahrzehnten finden sich keine Beispiele anhaltender Geldmengenschrumpfung, die umgekehrt auf Bewertungen hätten lasten können. Die Entwicklung der Geldmengen kannte immer nur eine Richtung, nämlich die der Expansion. So kann diese These allenfalls eine Vermutung sein, jedoch (noch) keinen Eingang in eine bewertungsbasierte Fundamentaldisziplin finden. 

Was bewertungsseitig für Aktien gilt, gilt im breiteren Kontext ganz grundsätzlich auch für Multi-Asset Portfolien: Die Bewertungen von heute sind die Renditen von morgen. Den Bewertungsanker für faktisch alle Anlageklassen bildet der Realzins zum Ausgangszeitpunkt einer Investition. Hohe, positive Realzinsen gehen einher mit nachfolgend ansprechenden Erträgen in einem Mischportfolio, umgekehrt haben niedrige oder gar negative Realzinsen stark prädiktiven Charakter für nachfolgend enttäuschende Gesamterträge. 

Abb. 06: Alles hängt am RealzinsAbb. 06: Alles hängt am Realzins

Entsprechend des Kerngedankens unserer Investmentphilosophie "Fakten statt Meinungen" bilden die aktuell vorherrschenden Marktpreise die beste Informationsbasis für Investitionsentscheidungen. In den Marktpreisen sind sämtliche verfügbare Informationen verarbeitet, sie erlauben ein prognosefreies Arbeiten, ganz ohne Vorhersagen der Zukunft. 

Auf Basis der Renditen inflationsindexierter Anleihen oder der Renditen nominaler Bundesanleihen abzüglich der swapbasierten 5y5y-Inflationserwartung bewegen sich die Realzinsen der Eurozone augenblicklich bei etwa null. Um die Nulllinie bestand historisch eine recht breite Streuung nachfolgend möglicher Portfoliorenditen in einem jeweils zur Hälfte aus Aktien und Anleihen konstruierten Mischportfolio. Ergänzend zu Bewertungs- und Realzinsniveau unterliegen die Ertragserwartungen für ein Mischportfolio zusätzlich auch stark dem jeweils vorherrschenden Inflationsumfeld. Unter niedrigen, moderaten Inflationsraten waren die Bedingungen für positive Portfoliorenditen historisch günstiger als unter erhöhten Teuerungsraten. 

Gerade der risikoadjustierte Erfolg von Mischportfolien stützte sich in den vergangenen Jahrzehnten auf das Versprechen niedriger bzw. negativer Korrelationen zwischen den beiden Hauptpfeilern der meisten Multi-Asset Strategien, nämlich Aktien und Anleihen. Diese niedrige Aktien-Bond Korrelation wird inzwischen vielfach als gegeben angenommen – sie ist tatsächlich aber keineswegs ein Naturgesetz. Sie hatte unter dem besonderen Einfluss rückläufiger (Real-)Zinsen der letzten 40 Jahre Bestand, doch zeigt der Blick auf noch längere Zeitreihen, dass dieser günstig auf ein Portfolio wirkende Diversifizierungsnutzen im Umfeld erhöhter Inflation schwindet. Die Investmenterträge des Jahres 2022 haben diesen Effekt eindrücklich vor Augen geführt.

Unter günstigen Bedingungen – in einem "NICE" Umfeld (non inflationary constant expansion) – haben sich Mischportfolien und reine Aktienportfolien in der Vergangenheit auch durch Krisen hindurch gut bewährt. Langfristig sind Aktien dabei die unangefochten überlegene Anlageklasse. Diese Eigenschaft sollte sich im Portfolio langfristig orientierter Anleger daher auch mit entsprechend konstruktiver Gewichtung widerspiegeln. Unter ungünstigeren Bedingungen mit erhöhten Inflationsraten hingegen geraten Aktien und Renten gleichermaßen unter Druck. Ausweislich der Untersuchungen des Credit Suisse Global Investment Returns Yearbooks 2023 erlitten sowohl Aktien als auch Anleihen in Phasen der Stagflation real negative Gesamterträge. Die reale Aktienrendite lag dabei im Mittel bei -4,7%, die reale Anleihenrendite bei -9,0%. Lediglich mit Gold und Rohstoffen gelang es in solchen Phasen, das Portfolio zu stabilisieren und gegen realen Vermögenverlust zu verteidigen. 

Zu vergleichbaren Erkenntnissen gelangen Neville et al. in ihren Arbeiten "The Best Strategies for Inflationary Times" (Henry Neville, Teun Draaisma, Ben Funnell, Prof. Campell Harvey, Otto van Hemert in: Journal of Portfolio Management August 2021). Sie zeigen in ihrer Untersuchung acht inflationärer Regime zwischen 1926 und 2020 das typische Verhalten unterschiedlicher Anlageklassen und -stile und bestätigen die Erkenntnis, dass die beiden traditionellen Anlageklassen – Aktien und Renten – in solchen Marktphasen wenig robust sind. Lediglich mit ausgewählten Selektionsansätzen innerhalb der beiden Assetklassen – z.B. Energiewerten bei Aktien oder inflationsindexierten Anleihen auf Rentenseite – konnte eine gewisse Inflationsresistenz erreicht werden. Die eindeutig resilienten Vermögenswerte in Inflationsphasen sind aber auch dieser Untersuchung nach wenig überraschend Gold und Rohstoffe. 

Abb. 07: Inflationsresistente InvestmentstrategienAbb. 07: Inflationsresistente Investmentstrategien

Investmentimplikation: Die überlegenen Portfolioeigenschaften von Gold und Rohstoffen unter sonst für das Gesamtportfolio schädlichen Bedingungen begründen deren grundsätzliche Eignung in der Portfolioinklusion. Edelmetalle und Rohstoffe mögen unter "Normalbedingungen" in einem Mischportfolio als verzichtbar gesehen werden, doch betrachten wir es nicht als unseren Ansatz oder Anspruch, Portfolien zu konstruieren, die nur unter Optimalbedingungen funktionieren. Der Versuch des "Timings" von Marktphasen und unterschiedlichen Inflationsregimen und daraus abgeleitet die allzu starke taktische Variation dieser Instrumente ist unserer Einschätzung nach ein hoffnungsloses Unterfangen. Die Wahrscheinlichkeit, die Zukunft bzw. das vorherrschende Inflationsumfeld dauerhaft korrekt vorhersagen zu können, tendiert gegen null. Daher sehen wir robuste, meinungs- und prognosefreie Multi-Asset Portfolien als überlegen an, wenn sie stets auch antifragile Instrumente installiert halten, die Schocks absorbieren und den Druck auf andere Portfoliobestandteile zumindest partiell egalisieren können. 

Die Analysen von Neville et al. zeigen in diesem Kontext einen weiteren Portfoliobaustein, der ein Mischportfolio gerade unter adversen Bedingungen wertstabil halten kann: Trendfolgestrategien – wie wir sie auch im BKC Treuhand Portfolio zum Einsatz bringen – sind exzellent geeignete Instrumente, um in Marktphasen des erodierenden Diversifikationsnutzens zwischen Aktien und Renten als Portfolioversicherung sowie als Verteidigungslinie gegen hohe Inflationsraten zu wirken. Trendfolge- bzw. Managed Futures Strategien spielen zudem immer dann ihre Stärke aus, wenn das Kernportfolio starken Verlusten ausgesetzt ist. In der Vergangenheit war dies mit hoher Zuverlässigkeit stets auch im Zuge hoher Aktienmarktverluste der Fall. 

Eine weitere - von vielen Investoren oft verdrängte - Erkenntnis bestätigt sich in der Studie von Neville et al.: Immobilien erweisen sich in Hochinflationsphasen keineswegs als der erhoffte Inflationsschutz. Sie erleiden in den untersuchten Zeiträumen reale Wertverluste. Zu berücksichtigen ist mit Blick auf Immobilieninvestments zusätzlich auch deren Verwundbarkeit aus willkürlichen staatlichen Eingriffen in Eigentumsrechte, wie sie historisch gerade in oder nach Inflationsphasen immer wieder praktiziert wurden (z.B. Hauszinssteuer, Lastenausgleich, Grundsteuerneuberechnung, usw. in Deutschland). Wertstabil zeigten sich hingegen in vergangenen Inflationsphasen den Berechnungen zufolge Sammlerobjekte wie Kunst, Wein oder Briefmarken. 

Unter extrem erhöhten Inflationsraten (wie im Falle der Hyperinflation der Weimarer Republik oder aktuelleren Beispielen in Venezuela und Argentinien) maximiert sich der Portfolioschaden. Zwar kommt es unter sehr hohen Inflationsraten auch zu sehr hohen nominalen Wertsteigerungen bei z.B. Aktien, einem sog. Crack-up Boom, doch beschleunigt sich zugleich die Dynamik des realen Wertverlustes. Investoren, die vor 1922 auf deutsche Aktien gesetzt hatten, verbuchten in der Katastrophenhausse von 1923 nominale Kurssteigerungen von mehreren Millionen Prozent, doch erlitten sie je nach Aktienkorb reale Verluste zwischen 60 und 80 Prozent. Anleihen verzeichnen in der Hyperinflation immer einen Totalverlust.

Weiten Anleger den Blick auf Zeiträume eines Jahrhunderts oder länger, erkennen sie in den Wertverläufen von Festzinsanlagen nicht nur in Hoch- und Hyperinflationsphasen den vollständigen, unwiederbringlichen Vermögensverlust. Auch Krieg, Währungsreform, Schuldenschnitt und Staatsbankrott führen in der Regel zum vollständigen Verlust des Kapitals. Über längere Zeiträume nagt der nicht minder gefährliche reale Wertverlust an Festzinsanlagen, wenn diese über lange Investitionsperioden hinweg der Finanzrepression ausgesetzt sind, der Anlagezins also unterhalb der Kaufkraftentwertung liegt. 

Bei objektiver Betrachtung der relativen Risiken von Staatsanleihen gegenüber Aktien und gegenüber Gold, überrascht die noch immer gängige und verbreitete Zuschreibung der "risikofreien" oder "sicheren" Anlage im Kontext der Rentenanlage. In unserer Praxis finden wir häufig Anlagerichtlinien vor, in denen in unterschiedlichen Variationen vorgegeben wird, dass der "Hauptteil" des Vermögens in "sicheren Anlagen"; nämlich Staatsanleihen anzulegen ist. Diese vermeintliche Sicherheit ist in der Betrachtung historischer Zeitreihen weder real noch nominal durch Erfahrungswerte seriös belegt. Faktisch war oft das Gegenteil der Fall.

Investmentimplikation: Eine individuelle Vermögenssituation kann selbstverständlich immer nur aus einer individuellen Risikoanalyse heraus beurteilt werden, die eine detaillierte Bewertung von Anlagezielen, Anlagehorizont, Risikotoleranz und Liquiditätserfordernissen erfordert. Ganz generell gilt dennoch die Aussage, dass viele Anleger, speziell in Deutschland, die meist objektiv gegebenen Spielräume für Investitionen außerhalb des Festzinsbereichs nicht ausschöpfen. Die langfristig positiven Portfolioeigenschaften von Aktien und Gold sind in ihrer Nutzung oftmals stark unterrepräsentiert. Mit Blick auf das häufig formulierte Anlageziel des "Kapitalerhalts" werden Renten diesem Ziel langfristig am wenigsten gerecht, wohingegen Aktien und Gold sehr viel besser geeignete Anlageinstrumente sind, um den realen Werterhalt über lange Anlagezeiträume hinweg tatsächlich erreichen zu können. Vielfach beobachten wir in den Anlagerichtlinien vieler Stiftungen und kirchlicher Anleger komfortablen Spielraum, aus der Historie heraus traditionell sehr hohe Anleihequoten auf das tatsächlich nötige Maß zu kürzen und freiwerdende Quoten der strategischen Vermögensallokation in Richtung höherer Aktienquoten und Beimischungen alternativer Anlagen sowie Gold zu substituieren. Gerade in einem Umfeld, in dem Anleihen zunehmend ihren Charakter als stabilisierendes Element im Portfolio verlieren (wie in den Jahren 2021, 2022), die Unkorreliertheit gegenüber anderen Anlageklassen schwindet und sich mit der global hohen Verschuldung ernsthafte Zweifel an der Schuldentragfähigkeit öffentlicher Schuldner aufbauen, scheint es ratsam, zumindest Teile der ursprünglichen Portfolioaufgaben (Liquidität, Wertaufbewahrung, Werterhalt) auf z.B. Anteile im Gold zu übertragen. Die Rolle der Ertragsgenerierung in einem Mischportfolio scheint mit der Aussicht auf vermutlich noch lange Zeit anhaltende Finanzrepression von (den richtig selektierten) Aktien in zuverlässigerem Maße adressiert werden zu können als von Anleihen.   

Mit einer faktisch deckungsgleichen Sichtweise überraschte uns jüngst der CEO von JPMorgan, Jamie Dimon, in einem Interview mit Bloomberg. Auf die Frage, wo er aktuell eine Million US-Dollar investieren würde, machte er klar:

"I wouldn't buy sovereign debt anywhere"

JPMorgan CEO Jamie Dimon

Wenn wir eine gewisse Skepsis gegenüber Staatsanleihen äußern, ist dies eine Sache. Wenn der Chef der weltweit bedeutendsten Bank (und des wichtigsten Anleihehändlers) zu dieser Einschätzung kommt, kann dies mindestens als brisant gewertet werden. Auf Nachfrage äußerte Dimon jene Bedenken, die auch wir seit Mitte 2020 immer wieder ins Feld führen: zu viel Geldumlauf, weiter erhöhte Inflationsgefahren, mögliche Entwicklungen analog der 1970er Jahre. 

Selbst außerhalb von Extremereignissen unterstreicht eine Fülle von Beispielen der letzten 15 Jahre die Kursrisiken von Staatsanleihen, entweder aus Kreditrisiken (Griechenland, Italien, Argentinien) oder aber aus traditionellen Zinsrisiken. Investoren etwa, die Österreichs mit 0,85% verzinsten Jahrhundertanleihe (Fälligkeit im Jahr 2120, handelt aktuell bei Geldkursen um 41) im Jahr 2020 zu Preisen nahe 140 erworben hatten, stellen sich möglicherweise selbst die Frage: "What were you thinking?". 

Rezession und Geldmengen-Deflation: Ist die Inflation gebändigt? 

Die Kapitalmärkte sehen den Inflationsschock der Jahre 2021/22 als überwunden. Ausweislich der marktbasierten Inflationserwartungen pendeln die Einschätzungen für mittelfristige Inflationsraten in den USA und Europa seit einiger Zeit zwischen 2% und 2,7%. Aktuell wirkt deutlich disinflationärer Druck, der wohl auch über die kommenden Monate Bestand haben wird. Allein aus der mathematischen Logik der Basiseffekte kommen die Verbraucherpreissteigerungen dynamisch zurück. Die Treiber der Preisexplosionen des Vorjahres (Energie- und Rohstoffpreise, starker Geld- und Nachfrageüberhang aus der ultraexpansiven Geld- und Fiskalpolitik der Jahre 2020-21, Covid-Lockdown-induzierte Angebotsknappheiten) laufen aus. 

Viele Daten bestätigen aktuell den Trend zu rückläufiger Inflation. Üblicherweise verlässliche Indikationen für die künftige Richtung der Verbraucherpreise ergeben sich aus "vorlaufenden Preisdaten", wie Importpreisen, Großhandelspreisen oder Erzeugerpreisen. Gerade die wichtigen Produzentenpreise, die mit einiger Zeitverzögerung einen Großteil der Veränderung der Inflation erklären, sind in Europa und den USA zuletzt sehr deutlich gesunken.

Abb. 08: Rückläufiger Trend bei vorlaufenden Preisdaten setzt sich fortAbb. 08: Rückläufiger Trend bei vorlaufenden Preisdaten setzt sich fort

In Deutschland nehmen Import- und Erzeugerpreise Kurs auf deflationäre Werte. In den USA liefern die Preisdaten aus den nationalen und regionalen Einkaufsmanager- und Konjunkturumfragen Anhaltspunkte für nachlassende Teuerung. Die entsprechenden Preiskomponenten im ISM, aber auch den regionalen Indizes wie Philadelphia Fed, Empire State Index oder Chicago PMI zeigen derzeit eine deutliche Abwärtsdynamik. 

Abb. 09: Auch Preiskomponenten wichtiger US-Konjunkturindikatoren sinkenAbb. 09: Auch Preiskomponenten wichtiger US-Konjunkturindikatoren sinken

Speziell in den USA verzerrt die sehr hohe Gewichtung der Wohnkosten und deren fragwürdige Erhebungsmethodik die Aussagekraft des Verbraucherpreisindex. Sehr viel näher an den Lebensrealitäten und repräsentativen Warenkörben ist unserer Einschätzung nach die "Echtzeitmessung" des Datendienstes "Truflation", der mit Werten von nur noch 2,46% die rückläufige Tendenz der Preisanstiege bestätigt. Die Truflation-Messung liegt seit geraumer Zeit unterhalb der offiziellen Inflationsrate von zuletzt 4,0%.

Abb. 10: TruflationAbb. 10: Truflation

Die Problematik der sehr trägen Wohnkosten in der offiziellen Inflationsmessung verschärft das Problem, dass die US-Notenbank in ihrer Steuerung der Geldpolitik stets den Blick in den Rückspiegel richtet, nicht nach vorn. So ist ein fehlerhaftes "Fahrverhalten" beinahe garantiert. Indem die Zentralbank ihre Politik fast ausschließlich von stark nachlaufenden Faktoren (Arbeitsmarkt, Inflation und dabei besonders Immobilienpreisen) abhängig macht, ist sie in der Zinsfindung stets zu spät – sie beginnt die Straffung zu spät und sie hält an der Straffung fest, wenn die Gründe dafür bereits weggefallen sind.  

Aktuell scheinen die Notenbanken fest entschlossen, ihre eklatanten Fehler der Jahre 2020-21 vergessen machen zu wollen, indem sie im Zweifel mit weiteren Zinserhöhungen die viel zu spät eingeleitete Zinswende überzukompensieren suchen. 

Abb. 11: Geldmenge sinkt erstmals seit Jahren – mit negativen Konjunkturfolgen?Abb. 11: Geldmenge sinkt erstmals seit Jahren – mit negativen Konjunkturfolgen?

Die bereits eingeleitete Schrumpfung der Geldmengen wird über die kommenden Monate fortwirken. Die ihr folgende Kreditkontraktion bremst Nachfrage und Konjunktur. Schon die letzte veröffentlichte Umfrage zur Kreditvergabe in den USA (Senior Loan Officer Opinion Survey) zeigte eine deutliche Straffung der Kreditvergabekonditionen und gesamthaft Kreditbedingungen, die in Einklang mit einer Rezession stehen. 

Die Konjunkturentwicklung im weiteren Jahresverlauf ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von weiterer Eintrübung gekennzeichnet. Inverse Zinsstrukturen (in den USA und Europa), rückläufige Frühindikatoren (in den USA inzwischen 14 Monate in Folge gefallen) und fallende Auftragseingänge in den Konjunkturumfragen (Europa: sehr schwache PMIs, USA: fallende Auftragseingänge im ISM) sind historisch stets verlässliche Vorboten für eine Rezession gewesen. 

In den USA präsentiert sich der Arbeitsmarkt insgesamt noch robust. Dabei muss in Erinnerung gerufen werden, dass Arbeitslosenquoten, Löhne und Stellenaufbau stark nachlaufende Indikatoren sind (die dennoch die Entscheidungen der US-Notenbank informieren). Betrachtet man jedoch eher frühzyklische Komponenten am Arbeitsmarkt, zeigen etwa die Daten zu geleisteten Überstunden oder die Nachfrage nach Zeitarbeitern inzwischen deutlich nach unten. 

Die Preise vieler konjunktursensitiver Anlagesegmente sprechen ebenfalls für eine Verlangsamung der wirtschaftlichen Nachfrage. Gerade die Schwäche bei Rohstoffpreisen deutet auf eine stockende Konjunktur. Der Gaspreis in Europa fiel zuletzt auf den niedrigsten Stand seit Mai 2021, Öl hat kräftig abgegeben und auch die Preise für Industriemetalle waren zuletzt unter Druck. Auch relative Preisdaten, wie etwa das Verhältnis von Öl zu Gold oder Kupfer zu Gold signalisieren Rezessionsgefahren. 

In Deutschland bestätigten zuletzt die sehr schwachen Werte im ZEW und den ifo-Konjunkturerwartungen das trübe Bild. Speziell für Deutschland belasten verstärkt auch strukturelle Faktoren die Erwartungen und Ausblicke der Unternehmen. Die kontinuierliche Verschlechterung der Standortbedingungen führt kaum überraschend zu einer zunehmenden Abwanderung und Produktionsverlagerung, vor allem im produzierenden Gewerbe. Der Niedergang der Automobilindustrie zeichnet sich bereits seit 2018 ab. Seit bereits fünf Jahren sinken die produzierten Stückzahlen der deutschen Hersteller, inzwischen hat China Deutschland bei der Zahl der ausgelieferten PKW überholt. 

Solange keine Kurskorrektur der Fehlsteuerungen und vorsätzlichen Schrumpfung der Wirtschaft absehbar ist, dürfte sich der fatale Negativtrend ungebremst fortsetzen. Gerade die "Energiewende" und die mit ihr verbundenen Maßnahmen kommen einer Demontage des über Jahrzehnte bewährten deutschen Geschäftsmodells gleich. 

"Konsumfreiheit und die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung müssen (…) als unantastbare Grundrechte empfunden werden. Gegen sie zu verstoßen, sollte als ein Attentat auf unsere Gesellschaftsordnung geahndet werden. Demokratie und freie Wirtschaft gehören logisch ebenso zusammen wie Diktatur und Staatswirtschaft"

Ludwig Erhard

Ein "Heizungsgesetz" steht allein der Idee nach (wie auch die noch weitreichenderen Pläne der "EU-Gebäuderichtlinie") im krassen Widerspruch zu Ludwig Erhards Auffassung der Marktwirtschaft, die heute bei weitem nicht mehr gesellschaftlicher Konsens zu sein scheint. Immer weniger genügen staatliche Interventionen den Prinzipien der freien, sozialen Marktwirtschaft. Erhard sah alle Zwangsformen der Wirtschaft als unmoralisch. Die Abkehr von marktwirtschaftlichen Prinzipien bringt Mangel (wie beispielhaft jüngst in der Nichtverfügbarkeit von Antibiotika und anderen Medikamenten für Kinder zu beobachten war) und ihr nachfolgende Interventionen zur erhofften Korrektur zuvor fehlgeschlagener Interventionen setzen immer weitere Preissignale außer Kraft. Der gesamtwirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Schaden wird weiter maximiert. 

Unter diesen Bedingungen überrascht, wie stabil sich die Konjunktur in Europa und Deutschland zuletzt noch halten konnte. Trotz Ukraine-Krieg, Hochinflation, Energiekrise und eben denkbar widriger Rahmenbedingungen seitens Politik und Regulierung hielten sich die Unternehmensgewinne deutscher Unternehmen erstaunlich stabil.

Abb. 12: Gewinnschätzungen für DAX-Unternehmen trotzen KonjunkturflauteAbb. 12: Gewinnschätzungen für DAX-Unternehmen trotzen Konjunkturflaute

Der Dax kämpfte sich seit Herbst 2022 unbeirrt nach oben und markierte im abgelaufenen Quartal ein neues Allzeithoch – eine Entwicklung, die vor einem Jahr sicherlich kaum jemand erwartet hätte. Es zeigt sich, dass es den Unternehmen sehr gut gelungen ist, eigenen Kostendruck in Form von Preiserhöhungen an die Kunden weiterzureichen. So blieben die Margen meist mindestens stabil. Zur Einwertung sind zwei weitere Aspekte zuzufügen: Einerseits erwirtschaften die Dax-Unternehmen den weit überwiegenden Anteil im Ausland. Andererseits ist der Dax als Performanceindex nur bedingt repräsentativ, als Kursindex ohne Berücksichtigung gezahlter Dividenden hat der Index sein im Januar 2022 markiertes Allzeithoch noch nicht wieder erreichen können. Dennoch zeigt die Entwicklung, dass das Festhalten an Aktien auch in Krisen und scheinbar unüberwindlichen Risiken sinnvoll ist.  

Vieles spricht weiter für eine globale Konjunkturabkühlung in der zweiten Jahreshälfte 2023. Gerät die Wirtschaft ins Stocken, sind nachfrage- und damit preisdämpfende Effekte zu erwarten. Besonders die anhaltende Verknappung der Geldmengen wirkt deflationär. 

Investmentimplikation: Kurzfristig besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen disinflationären Abschwung. Ein solches Umfeld ist taktisch rentenpositiv und negativ für Aktien, Kreditrisiko und Rohstoffe. Viele Marktsegmente zeigen bereits ein entsprechend konjunkturkonsistentes Verhalten: Die Renditen langlaufender Staatsanleihen sind zuletzt nicht weiter angestiegen, Rohstoffaktien waren schwach, auch die Erschöpfung der Konsumenten wird gerade in den USA in Unternehmensberichten und -prognosen von Konsumwerten sichtbar: Beispielhaft mussten die Aktienkurse von Dollar General, Target, Big Lots oder Walgreens herbe Rückschläge hinnehmen, nachdem sie ihre Umsatz- und Gewinnerwartungen deutlich eingekürzt hatten. Aktien scheinen in Anbetracht der Abwärtsrisiken für die Gewinne, aber auch ohne zusätzliche Gewinnrevisionen gesamthaft teuer. Taktisch scheint daher weiterhin zunächst Zurückhaltung geboten. Die Risikoaufschläge für Unternehmensanleihen im Investment Grade Segment und für High Yield Bonds zeigen aktuell noch wenig Sorge vor Abstufungen und steigenden Ausfällen im Zuge einer Konjunkturverlangsamung. Die geringe Zusatzkompensation für Anleihen niedrigerer Kreditqualität spricht aktuell weiterhin dafür, höheren Bonitäten den Vorrang einzuräumen. In der kurzfristigen, taktischen Betrachtung finden sich gute Gründe, die Duration im Rentenbereich auch wieder zu verlängern. Der Rentenmarkt wird mit erwarteten Zinssenkungen der Notenbanken im Jahr 2024 tendenziell Rückenwind haben. Mittelfristig könnte sich in Abhängigkeit des Inflationspfades, der auf den aktuellen Abwärtszyklus folgt, aber ein anders Bild ergeben. 

Die Vermutung liegt nahe, dass Regierungen den kommenden Abschwung mit neuerlichen Fiskalmaßnahmen bekämpfen werden. Bereits jetzt schon hohe Defizite werden noch einmal weiter ansteigen und damit der noch ausstehenden Straffung der Geldpolitik entgegenwirken. Die "fiskalische Dominanz" hat durchaus das Potential, Zinssteigerungen der Notenbanken einen Teil ihrer Wirkung zu nehmen. 

Eine der wenigen verlässlichen Konstanten bleibt das Nichtzulassen der an sich nötigen Bereinigung von Ungleichgewichten und vollständigen Liquidation von Fehlinvestitionen in Krisen. Der Rettungsreflex der Politik bricht natürliche Selbstheilungsprozesse der Märkte stets ab. Damit wuchert die überbordende Rolle des Staates weiter, die Schuldenpolitik hält die Inflation höher als sie im Falle einer nichtinterventionistischen Politik ausfallen würde. Gleichzeitig steigt mit immer höheren Schulden das Interesse der Staaten an fortgesetzter Finanzrepression. Ein anhaltender Risikotransfer von privaten auf öffentliche Bilanzen führt zu weiteren Verzerrungen von Anreizen und Haftungsprinzip, die immer dominantere Rolle des Staates bremst unternehmerische Initiative, führt zu deren "crowding out" und resultiert so in gesamthaft weniger Wohlstand und Wachstum. Disinflationär wirkende Innovations- und Produktivitätssteigerungen bleiben im Ergebnis begrenzt. 

Mittelfristig gleichsam inflationäre Treiber ergeben sich aus Notwendigkeiten deutlich höherer gesamtvolkswirtschaftlicher Investitionen: Die jahrelang vernachlässigte Instandhaltung der Infrastruktur erfordert (in Nordamerika und Europa) erheblichen Nachholbedarf für die Nachrüstung von Straßen, Schienen, Netzen, Gebäuden und digitaler Infrastruktur. Der Umbau von Lieferketten ("Onshoring") setzt Chancen auf eine industrielle Renaissance frei, wirkt aber in jedem Fall stark inflationär. Die politisch forcierte Energiewende geht mit gewaltigen Investitionserfordernissen einher, die beeindruckenden Summen des "Inflation Reduction Acts" in den USA (Gesamtvolumen von über 430 Mrd. US-Dollar) sind dabei möglicherweise nur ein Einstieg in eine Serie weiterer Investitionspakete. 

Eine strukturelle Verteuerung vieler Rohstoffe ist wahrscheinlich, weil lange Zeit unterlassene Folgeinvestitionen und unterbliebene Erschließungen neuer Vorkommen zu steigenden Kosten führen. Gerade bei vielen für die Energiewende benötigten Industriemetallen zeichnet sich eine Knappheit ab. Nach einer Analyse von Bloomberg steigt die Kupfernachfrage bis zum Jahr 2040 um 53 Prozent. Dieser zusätzliche Bedarf kann aber nur schwer gedeckt werden, weil bestehende Minen bis dahin die Förderung um lediglich 16 Prozent ausweiten können. Höhere Förderkosten, schlechtere Qualitäten, verschärfte Umweltauflagen, steigende politische Risiken (wie zuletzt bei staatlichen Zugriffen auf die Kupferindustrie in Chile gesehen) und zu wenige Entwicklungen neuer Förderprojekte wirken bei Kupfer und anderen "Zukunftsmetallen" allesamt preistreibend.   

Auch die globale Arbeitskräfteknappheit und Demographie verstärken über die kommenden Jahre weitgehend konjunkturunabhängig Lohn- und Kostendruck. Abgerundet wird das Bild struktureller Inflationstreiber von der angespannten geopolitischen Lage – besonders die Hoch- und Aufrüstung eines entfesselten Bellizismus entzieht den Volkswirtschaften anderweitig produktiver verwendbare Ressourcen und treibt die Preise. Eine mögliche Neuordnung der globalen Währungsarchitektur als Folge der Abkehr asiatischer Länder vom US-Dollar und einer Hinwendung zu einer in realen Werten geankerten Währung würde in der westlichen Welt zusätzlich zu den genannten Faktoren einen immensen Inflationsschock auslösen.  

Investmentimplikation: Kurzfristig dominieren für den Inflationsausblick bremsende Einflüsse. Mittelfristig bestehen hingegen erhebliche Aufwärtsrisiken, die in der Portfoliokonstruktion nicht leichtfertig übergangen oder ignoriert werden können. Renten und insbesondere Anleihen mit längeren Laufzeiten sollten dann gegenüber dem aktuell taktisch positiven Ausblick wieder mit größerer Vorsicht gehandhabt werden. Die aktuell erzielbaren Renditen in längeren Laufzeiten bieten unserer Einschätzung nach auch keinen hinreichend großen Puffer für mögliche Inflationsüberraschungen auf der Oberseite. Inflationsindexierte Anleihen bleiben in diesem Kontext ein geeignetes Selbstverteidigungsinstrument. Gleichermaßen können Fremdwährungsanleihen aus Währungsräumen mit geringerer Verschuldung (z.B. Schweiz, Mexiko, Tschechien), höheren Realzinsen (z.B. Mexiko, Brasilien) und intakteren Fundamentaldaten (z.B. Schweiz, Singapur) im Rentenportfolio sinnvolle Ergänzungen sein. 

Jahrelanger Investitionsstau und hohe Nachrüstungserfordernisse sprechen wie der Umbau der Energieversorgung über die kommenden Jahre für Rohstoffe. Sie sind eine der wenigen Anlageklassen, die ein Portfolio im Inflationsumfeld zuverlässig stabilisieren können. Aktien hingegen sind in einem Regime erhöhter Inflation ebenso wie Immobilien keine garantiert kaufkrafterhaltende Anlageklasse. Sie unterliegen in Inflationsphasen häufig Bewertungskontraktionen. Durchschnittliche KGVs haben sich in früheren Inflationsphasen oftmals halbiert. Unter inflationären Bedingungen sind die Sektorauswahl und Einzeltitelselektion entscheidend.  

Mit mittelfristig erhöhten Risiken für eine Wiederkehr höherer Inflationsraten sehen wir es als ratsam, weiterhin Vermögenswerte investiert zu halten, die eine hohe Inflationsresistenz bieten. Zu kaufkrafterhaltenden Anlagen zählen Gold (eine Fülle informativer Auswertungen zu Gold und Inflation enthält der überaus empfehlenswerte "In Gold We Trust" Report 2023), Industriemetalle, Managed Futures, inflationsindexierte Anleihen und Aktien mit hohem Inflations-Beta. 

Autor:
Bernhard Matthes, CFA | Bereichsleiter BKC Asset Management | Bank für Kirche und Caritas eG
Bernhard Matthes, CFA

Bereichsleiter BKC Asset Management
Bank für Kirche und Caritas eG

 

[ Bildquelle Titelbild: Generiert mit Midjourney AI ]
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