RiskNET-Kolumne 11/2005: Risiken und Nebenwirkungen beim Würfeln


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Im Risikomanagement erfreuen sich quantitative Modelle zunehmender Beliebtheit, insbesondere in der Industrie ist ein wachsendes Interesse zu beobachten. Am Anfang standen die Szenario-Analysen. Ganz bescheiden begnügte man sich mit drei Alternativen: Bester Fall, schlechtester Fall und erwarteter Fall. Wie in Erich Kästners Entwicklung der Menschheit wurde im Zeitablauf alles moderner, auch die EDV und man gab sich mit den drei schlichten Szenarien nicht mehr zufrieden. Fortan wurden viele Szenarien betrachtet, die wahlweise aus Marktbeobachtungen in der Vergangenheit oder aus zukunftsgerichteten Zufallsprozessen entstammen. Aus den Ergebnissen von 5.000, 10.000 oder 20.000 simulierten Szenarien sind Häufigkeitsverteilungen ableitbar. Und so wurde alles besser: Den einzelnen Ergebnissen konnten nun Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden.

Wahrscheinlichkeiten können aber trügerisch sein.

Zu unterscheiden ist zwischen einer mit statistischen Methoden ermittelten Wahrscheinlichkeit und einer „gefühlten“ Wahrscheinlichkeit. Letztere wird umgangssprachlich gerne zur Ausschmückung von subjektiven Aussagen verwendet. So finden sich bei der Suche nach „99,9 % Wahrscheinlichkeit“ in Google gleich auf der ersten Seite Selbstmordvorschläge des Freitodforums neben der Fehlerquelle für defekte Scheibenwischer eines Minis (mit 99,9 % Wahrscheinlichkeit ein defekter Endschalter am Wischermotor). Die genannten Wahrscheinlichkeiten beziehen sich aber nicht auf die kausalen Zusammenhänge, diese sind vielmehr unbekannt. Aber auch die Aussagesicherheit medizinischer AIDS- oder Vaterschaftstests scheint die Community zu beschäftigen. Wenn ein AIDS-Test mit 99,99 % Wahrscheinlichkeit Gesunde und Infizierte richtig erkennen würde, dann läge bei einem positiven Befund die Wahrscheinlichkeit für einen Fehlalarm bei 50 % (vgl.

www.wer-weiss-was.de/faq150/entry1260.html

). Das ist auf den Testaufbau zurückzuführen.

Für das Risikomanagement  in Unternehmen lässt sich daraus aber ableiten, das Wahrscheinlichkeitsaussagen nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen möglich sind. Weder die im qualitativen Risikomanagement beliebten „gefühlten“ Wahrscheinlichkeiten, noch die im quantitativen Bereich aus Simulationen ableitbaren Wahrscheinlichkeiten sind absolut zuverlässig. Im quantitativen Bereich gibt es jedoch eine Erleichterung, dort ist die Prognosegüte leichter nachprüfbar. Dazu bedarf es so genannter Backtesting-Verfahren, bei denen ex post die tatsächlich eingetretenen Gewinne und Verluste mit den im jeweiligen Risikomodell prognostizierten Beträgen verglichen werden. Im Konzernbericht 1999 der Deutschen Bank ist zum Backtesting vermerkt: „Es kam 1999 an keinem der Handelstage zu Verlusten, die den Value at Risk für diesen Tag überschritten. Daran zeigt sich, dass das Value at Risk Modell der Deutschen Bank die Marktrisiken nicht unterschätzt hat.“ Die gleiche Aussage findet sich auch in späteren Berichten für die Jahre 2000 und 2001, danach hat sich die Berichterstattung geändert.

Dem zufolge könnte sich die Deutsche Bank seit 1999 über ein sicheres Risikomodell freuen, oder? Aber die Aussage sagt wenig über die Prognosegüte des Value at Risk Modells aus. Die Deutsche Bank rechnet seit der Übernahme von Bankers Trust mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 %. Erwartungsgemäß hätte es an 2-3 (= 1 %) von ca. 255 Handelstagen Überschreitungen des Value at Risk geben können. Das keine Überschreitungen des Value at Risk stattgefunden haben, könnte ein Hinweis dafür sein, dass das angewendete Modell den Value at Risk tendenziell überschätzt. Ein Beispiel hierfür wäre ein Modell, das z.B. den worst case mit dem Faktor 10 multipliziert und damit nie das tatsächliche Risiko unterschätzt hat. Ein Value at Risk-Modell mit 99% Aussagesicherheit kann bei einer stets überzogenen Risikoprognose nicht abgelehnt werden, was ein genereller Nachteil der hohen Wahrscheinlichkeit ist. Grundsätzlich scheint eine Risikoprognose mit 99 % Wahrscheinlichkeit sicherer zu sein als eine Prognose mit nur 95 % Wahrscheinlichkeit. Für die Überprüfung des Modells ergeben sich daraus aber Probleme.

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Abbildung 1: Kennzahlen für das Backtesting von Modellen

Von KUPIEC wurden die in Abbildung 1 gezeigten Vertrauensintervalle berechnet, mit denen geprüft werden kann, ob die tatsächlich beobachtete Anzahl von Überschreitungen des prognostizierten Value at Risk zur Ablehnung des Modells führt (vgl. JORION). Beträgt die Wahrscheinlichkeit in dem Risikomodell beispielsweise 99 %, so liegt die Gegenwahrscheinlichkeit für eine Überschreitung des Value at Risk bei 1 %. In der ersten Zeile ist die Gegenwahrscheinlichkeit p = 1 % abgetragen und in der ersten Spalte stehen die Vertrauensintervalle für einen Beobachtungszeitraum von T=255 Handelstagen. Die Variable N steht für die Anzahl der beobachteten Überschreitungen des für die Haltedauer von 1 Tag prognostizierten Value at Risk. Kommt es in einem Zeitraum von 255 Handelstagen an 7 oder mehr Tagen zu einer Überschreitung des Value at Risk, so wird das Risikomodell verworfen. Für den Test beträgt die Wahrscheinlichkeit für den α-Fehler, das Modell zu Unrecht abzulehnen, 5 %. In diesen Fällen wird das Risikomodell auf Grund der Kriterien von KUPIEC abgelehnt, obwohl es tatsächlich korrekte Ergebnisse liefert.

Im Beispiel der Deutschen Bank kam es in 1999 zu keiner Überschreitung, was einerseits nicht den Erwartungen entspricht, andererseits aber auch nicht das Modell widerlegt. Die Ablehnung des Modells wegen der Überschätzung des Risikos ist bei einer Wahrscheinlichkeit von 99 % nicht möglich. Das Konfidenzintervall für die Annahme des Modells umfasst [0 % ; 2,35 %]. Wenn das Risiko ex post in mehr als 2,35 % der Beobachtungen höher als geschätzt war, dann wird das Modell abgelehnt. Das Modell kann daher nur abgelehnt werden, wenn es das Risiko unterschätzt. Jedoch könnte es an 6 von 255 Handelstagen zu einer Überschreitung des Value at Risk kommen, was 2,35 % statt 1 % entspricht, ohne dass das Modell signifikant zu widerlegen wäre.

Wenn das Modell bei mehr als doppelt so vielen Überschreitungen wie erwartet ebenso wenig verworfen werden kann wie bei keiner einzigen beobachteten Überschreitung, wird deutlich, welche Akzeptanzprobleme eine Wahrscheinlichkeit von 99 % mit sich bringt. Im Gegensatz dazu ist ein Modell mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % leichter zu verifizieren bzw. zu widerlegen. Das Konfidenzintervall beträgt hier [2,75 %; 7,84 %]. Für den Zeitraum von 255 Handelstagen wird es erwartungsgemäß an 13 Tagen zu einer Überschreitung des Value at Risk kommen. Das Vertrauensintervall für die Prüfung der Prognosegüte ist nun zweiseitig, bei nur 6 und weniger Überschreitungen überschätzt das Modell das Risiko und wird daher abgelehnt. Wenn es an 21 oder mehr Handelstagen zu einer Überschreitung des Value at Risk kommt, unterschätzt das Modell das Risiko und wird ebenfalls abgelehnt. Während bei einer Wahrscheinlichkeit von 1 % die tatsächliche Überschreitung das 2,35-fache betragen darf, ohne dass das Modell widerlegbar ist, sinkt die zulässige Überschreitung bei 95 % Wahrscheinlichkeit auf das 1,53-fache (=20/13).

Es bleibt die Frage, ob eine Wahrscheinlichkeit von 99 % „sicherer“ ist als ein Wert von 95 %. Diese Schlussfolgerung liegt nahe, ist jedoch gefährlich. Wie das vorliegende Beispiel zeigt, sind Modelle mit 95 % Wahrscheinlichkeit leichter widerlegbar bzw. verifizierbar und die tatsächlichen Value at Risk Überschreitungen stimmen besser mit den Erwartungen überein. Der aus 95 % gegenüber 99 % Wahrscheinlichkeit resultierende geringere Value at Risk kann bei der Festlegung der Risikolimite kompensiert werden. Mit einem kleinen Beispiel wird der Zusammenhang deutlich: Zwei Unternehmen haben jeweils 100 Mio. EUR Risikokapital. Unternehmen A rechnet sein Risiko auf den Planungshorizont 1 Jahr mit 95 % Wahrscheinlichkeit, Unternehmen B hat bei sonst gleichen Parametern 99 % Wahrscheinlichkeit gewählt. Das Unternehmen A setzt sein Limit mit 20 Mio. EUR an, Unternehmen B stellt 100 Mio. EUR ins Risiko. Statistisch müsste bei Unternehmen A das Risiko in 100 Jahren fünf mal schlagend werden, bei Unternehmen B ein mal.

Ein Nachteil des Value at Risk-Maßes ist, dass es nichts über die Höhe des Verlustes bei Überschreitung der VaR-Marke aussagt. Darunter leidet die Vergleichbarkeit der beiden Unternehmen in dem obigen Beispiel ein wenig. Aber grundsätzlich könnten zwei Unternehmen, die in ihren Modellen mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten rechnen (z.B. 99 % und 95 %), trotzdem die gleiche Risikotoleranz haben. Nur wäre das Modell mit 95 % Aussagesicherheit einfacher zu überprüfen.

At-Risk-Modelle machen Risiken in Unternehmen transparent. Ein Allheilmittel sind sie aber nicht und das Management können sie erst recht nicht ersetzen. Vielmehr erweitern sie das Frühwarnsystem um ein weiteres Instrument, so dass bestandsgefährdende Entwicklungen zeitnah erkennbar werden. Kritisiert wird häufig, dass die Risikomodelle manchmal zu falschen Risikoeinschätzungen führen. Die komplexen Verfahren suggerieren dem Anwender eine Genauigkeit und Prognosegüte der Risikomessungen, die nicht immer gewährleistet ist. Bei JORION findet sich ein Beispiel eines Kritikers der Value at Risk Modelle. Demnach stürzt ein Pilot mit einem manchmal ungenauen Höhenmesser ab, aber ohne Höhenmesser würde er ab und an aus dem Fenster schauen. Das Beispiel zeugt von einer falsch verstandenen Idee, wofür der Value at Risk berechnet wird. Die Modelle sollen den Verantwortlichen nicht eine Entscheidung abnehmen, sondern zusätzliche Informationen für die Entscheidungsfindung liefern. Die persönliche Urteilsfähigkeit von erfahrenen Anwendern sollte stets korrigierend berücksichtigt werden. Insofern fliegt ein Pilot bei Nacht und Nebel sicherer, wenn er zusätzlich zu dem Blick aus dem Fenster ab und an auf den Höhenmesser schaut.

Die Modelle können für den erfahrenen Anwender von großem Nutzen sein, aber bei falschem Umgang auch Schaden anrichten. Die Kunst besteht darin, zu verstehen welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um mit den Modellen zuverlässige Risikoprognosen zu erhalten und in welchen Situationen die Gefahr einer fehlerhaften Prognose entsteht. Zu Risiken und Nebenwirkungen finden Sie auf RiskNET.de zahlreiche Quellen.

 

Literaturempfehlungen:

HAGER, P. (2004): Corporate Risk Management – Cash Flow at Risk und Value at Risk, Band 3 der Schriftenreihe ccfb-competence center finanz- und bankmanagement, hrsg. v. A. Wiedemann, Frankfurt am Main 2004.

JORION, P. (1997): Value at Risk – The New Benchmark for Controlling Derivatives Risk, USA 1997.

JORION, P. (2001): Value at Risk – The New Benchmark for Managing Financial Risk, 2nd ed., USA 2001.

WIEDEMANN, A. / HAGER, P. (2003): Messung finanzieller Risiken mit Cash Flow at Risk- / Earnings at Risk-Verfahren, in: Erfolgsfaktor Risiko-Management, hrsg. v. F. Romeike / R.B. Finke, Wiesbaden 2003, S. 217 – 233.

 

Zum Autor:

Dr. Peter Hager ist Geschäftsführer für die ccfb – Prof. Dr. Wiedemann Consulting GmbH & Co. KG.

 

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