Publikation "Gesundheitswesen aktuell 2010"

Frühwarnsysteme in der Gesetzlichen Krankenversicherung


Frühwarnsysteme in der Gesetzlichen Krankenversicherung News

Im Frühsommer meldeten erstmals seit Einführung des Gesundheitsfonds Betriebskrankenkassen Insolvenz an. Wegen des gesetzlichen Zwangs, mit anderen Krankenkassen des eigenen Verbands eine Haftungsgemeinschaft zu bilden, kann die Notlage einer Krankenkasse unter Umständen auf andere übergreifen und einen "Dominoeffekt" auslösen. In Anbetracht der aktuellen Lage diskutiert ein Beitrag in der heute erschienenen Publikation "Gesundheitswesen aktuell 2010", inwieweit Frühwarnsysteme geeignet sind, rechtzeitige Hinweise auf finanzielle Fehlentwicklungen zu liefern. Ihre Zweckmäßigkeit ist dabei davon abhängig, ob die abgeleiteten Konsequenzen in der Haftungsgemeinschaft umgesetzt werden können.

Die Zahl der Krankenkassen ist in den letzen Jahren stark zurückgegangen. Gab es im Jahr 1994 noch 1.152 verschiedene Krankenkassen, ging die Zahl bis Januar 2010 auf 169 (GKV-Spitzenverband 2010) zurück. Die Meldungen über geplante Fusionen nehmen trotz der verringerten Krankenkassenzahl nicht ab. Die Vision der letzten Gesundheitsministerin Schmidt (BMG 2009), dass künftig 30 bis 50 Krankenkassen für die Versorgung der Versicherten ausreichen, wird vor dem Hintergrund weiterer Fusionen zunehmend realistischer.

Für das Jahr 2010 prognostiziert der Schätzerkreis ein Defizit der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Höhe von 3,1 Milliarden Euro, für das Jahr 2011 ist, je nach Szenario, ein weiterer Anstieg auf 10 bis 15 Milliarden Euro zu erwarten. Der einheitliche Beitragssatz von derzeit 14,9 Prozent muss jedoch erst erhöht werden, wenn die Ausgaben der GKV in zwei aufeinanderfolgenden Jahren nicht mehr zu mindestens 95 Prozent gedeckt sind. Damit würde sich die finanzielle Situation der Krankenkassen in 2011 bei unveränderten Rahmenbedingungen massiv verschlechtern.

Insolvenzfähigkeit der Gesetzlichen Krankenkassen bei eingeschränkten Refinanzierungsmöglichkeiten

Mit der Einführung des Gesundheitsfonds zum 1. Januar 2009 gilt für alle Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen ein einheitlicher Beitragssatz. Die Krankenkassen erhalten für ihre Versicherten Zuweisungen nach Alter, Geschlecht und Morbidität. Reichen diese Zuweisungen nicht aus, um die Kosten zu decken, müssen die Krankenkassen Zusatzbeiträge von ihren Mitgliedern erheben. Diese sind zwar auf ein Prozent des Einkommens bis zur Beitragsbemessungsgrenze von aktuell 3.750 Euro begrenzt, haben aber eine große Signalwirkung, sodass die Gefahr hoher Mitgliederverluste mit der Erhebung von Zusatzbeiträgen einhergeht. Bei den Krankenkassen, die seit Februar 2009 einen Zusatzbeitrag erheben, ist aktuell ein hohes Wechsleraufkommen zu beobachten.

So verlor beispielsweise die DAK in den ersten vier Monaten des Jahres 2010 2,9 Prozent ihrer Mitglieder, nachdem sie ab Februar einen Zusatzbeitrag verlangte (Tagesspiegel 2010). Seit dem 1. Januar 2010 sind zudem alle Krankenkassen insolvenzfähig (GKV-OrgWG). Durch die gleichzeitige Einführung von Haftungsverbünden besteht auch für finanziell stabile Krankenkassen somit ein Risiko, im Falle einer Insolvenz innerhalb der eigenen Krankenkassenart hohe Unterstützungszahlungen leisten zu müssen. So müsste beispielsweise die BARMER GEK bei einer Insolvenz oder Schließung innerhalb des Ersatzkassensystems mit einem Haftungsbetrag in Höhe von über 500 Millionen Euro rechnen (2,5 Prozent der jährlichen Zuweisungen).

Angesichts der durch den Gesundheitsfonds einerseits deutlich eingeschränkten Refinanzierungsmöglichkeiten der Krankenkassen (auf maximal ein Prozent der Einkommen begrenzte Zusatzprämie statt weitgehender Beitragssatzautonomie) und der andererseits gleichzeitig hergestellten Insolvenzfähigkeit beziehungsweise der Bildung von Haftungsverbünden steigt das unternehmerische Risiko bei den Krankenkassen erheblich an. Geraten viele oder einzelne größere Krankenkassen in finanzielle Bedrängnis, besteht sogar die Gefahr, dass das GKV-System instabil wird. Vor diesem Hintergrund haben die Krankenkassen neben dem unmittelbaren Ziel, selbst nicht in eine Schieflage zu geraten, auch insgesamt ein erhebliches Interesse daran, dass die anderen Krankenkassen im eigenen Haftungsverbund über einen soliden Haushalt verfügen und eine solide Finanzpolitik betreiben. Starke Mitgliederverluste, hohe Defizite und ein zu geringer und/oder ein zu spät erhobener Zusatzbeitrag von "Schwesterkassen" werden sorgfältig registriert. Um die ökonomischen Risiken zu begrenzen, ist ein funktionierendes Frühwarnsystem erforderlich, das die notwendige Transparenz über finanzielle Risiken auf allen Ebenen der GKV – von der Einzelkasse über die Spitzenverbände der Krankenkassenarten bis hin zum GKV-Spitzenverband – und zur Aufsicht für die jeweiligen Beteiligten bereitstellt.

Elemente eines Frühwarnsystems in der GKV

Im Hinblick auf die Anforderungen an Frühwarnsysteme sind im GKV-System insgesamt vier unterschiedliche Blickwinkel zu berücksichtigen:

  • die Einzelkasse,
  • der Haftungsverbund der Krankenkassenart,
  • der Haftungsverbund GKV und
  • die Aufsichtsbehörden.


Zum Ersten soll ein Frühwarnsystem für die Einzelkasse einen möglichst vollständigen Überblick über die eigene Position geben (direkte Risikoposition). Zum Zweiten schafft ein Frühwarnsystem auf Krankenkassenartenebene die Transparenz über die finanzielle Situation in der Haftungsgemeinschaft und ist Vorrausetzung für die Hilfeleistung im Krankenkassenverbund (indirekte Risikoposition). Reichen drittens die Hilfen der jeweiligen Krankenkassenarten nicht aus, werden vom GKV-Spitzenverband kassenartenübergreifende Hilfen gewährt, sodass dieser ebenfalls Informationen zur Vermeidung der Schließung oder Insolvenz von Krankenkassen aus einem Frühwarnsystem benötigt. Zum Vierten hat auch die Aufsicht in Form des Bundesversicherungsamtes und der Länderaufsichten einen frühzeitigen Informationsbedarf, um ihrer Aufsichtspflicht nachkommen zu können. In Zeiten der Wirtschaftskrise und der Angst von Krankenkassen, durch die Erhebung von Zusatzbeiträgen im Falle finanzieller Engpässe hohe Mitgliederverluste zu erleiden, hat auch die Politik ein Interesse an einem funktionierenden Frühwarnsystem, um das GKV-System stabil und leistungsfähig zu halten.

Risikofaktor "self-fulfilling prophecy"

Das Hauptinteresse aller Beteiligten in der GKV liegt im Sinne der Haftungsvermeidung darin, bereits möglichst frühzeitig finanzielle Schieflagen bei Krankenkassen zu erkennen. Allerdings offenbart sich hier ein typisches Dilemma von Haftungsverbünden: Es kollidieren die Informationsbedürfnisse der Haftungsgemeinschaft mit dem Bedürfnis der sie tragenden Einzelwettbewerber, ihre sensiblen und wettbewerbsrelevanten Informationen gerade nicht beziehungsweise möglichst spät preiszugeben. Erschwerend kommt hinzu, dass – ähnlich wie im Bankensektor – das Offenlegen einer Schieflage oder gar drohenden Insolvenz unter Umständen einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung gleichkäme. Da Vertragspartner und Versicherte ihr Vertrauen in die Zahlungs- und Leistungsfähigkeit der Krankenkasse verlieren, wird der eigentlich zu stoppende negative Prozess zusätzlich beschleunigt.

Anforderungen an ein funktionierendes Frühwarnsystem

Ein Ziel von Frühwarnsystemen ist es, rechtzeitig Risiken aufzudecken, sodass noch ausreichend Zeit bleibt, geeignete Maßnahmen zur Abwendung oder Reduzierung der Bedrohung zu ergreifen. Das Frühwarnsystem muss zudem die divergierenden Interessen von potenziell haftenden Krankenkassen und Haftungsempfängern berücksichtigen. Anhand eines von allen Beteiligten anerkannten Kennzahlensystems gilt es, einerseits finanzielle Schwierigkeiten rechtzeitig zu erkennen und andererseits die Einleitung geeigneter Maßnahmen zur Vermeidung einer Insolvenz sicherzustellen. Das Erkennen eines Risikos ist zwar die erste Voraussetzung für dessen Bewältigung; ohne schnelle und wirksame Interventionen bliebe es jedoch bei den Rufen der Cassandra.

Von entscheidender Bedeutung für die Akzeptanz ist dabei ein klar definiertes Regelwerk bei den Aufgreifkriterien wie auch für das Einleiten von Interventionsstrategien. Ein Frühwarnsystem benötigt hierzu Kennzahlen, die zeitnah, eindeutig und einheitlich ermittelt werden können. Besonders geeignet sind solche Kennzahlen, die ohnehin routinemäßig und laufend erhoben werden. Insbesondere für die übergeordneten Institutionen wie den Haftungsverbund, den GKV-Spitzenverband und die Aufsicht bieten sich die Informationen aus amtlichen Statistiken als Grundlage eines Frühwarnsystems an. Als wichtigste Datenquellen sind hier die Vierteljahresrechnungen KV45, die Jahresrechnung KJ1 und die monatlich erhobene Mitgliederstatistik zu nennen. Auf der Ebene der einzelnen Krankenkassen können diese Informationen durch weitere interne Informationsquellen (wie beispielsweise den Haushaltsplan) ergänzt werden. Darüber hinaus ist es sinnvoll, komplexere Kennzahlen aus den genannten Datenquellen abzuleiten oder unabhängig davon zu erheben.

Barmer-GEK: Gesundheitswesen aktuell 2010Den kompletten Artikel finden Sie in der Publikation "Gesundheitswesen aktuell 2010"



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[Bildquelle oben: iStockPhoto]



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