Klimaszenarien

Die Granularität entscheidet


Klimaszenarien: Die Granularität entscheidet Kolumne

Klimaszenarien sind fester Bestandteil des Risikomanagements von Kreditinstituten. Die verwendeten Szenarien hängen allerdings stark von den zugrunde liegenden Klimamodellen ab. Physische Risiken lassen sich besonders schwer modellieren. 

Wenn von klimabezogenen Finanzrisiken die Rede ist wird zwischen Transitionsrisiken und physischen Risiken unterschieden. Bei erstgenannter Kategorie geht es um die Risiken, die in der Folge von Anpassungsprozessen bei der Umstellung auf eine kohlenstoffarme Wirtschaft auftreten. Als physische Risiken bezeichnet man hingegen die Risiken, die aus direkten und indirekten Folgen sowohl aus einzelnen Extremwetterereignissen als auch langfristigen Veränderungen klimatischer und ökologischer Bedingungen resultieren.

Im aufsichtlichen Fokus standen bisher die Transitionsrisiken von Finanzinstitutionen. Eine wachsende Zahl von Zentralbanken und Aufsichtsbehörden führen seit etwa zwei Jahren Klimastresstests durch. Die auf Grundlage von Integrierten Bewertungsmodellen (IAM, Integrated Assessment Models) entwickelten Klimaszenarien werden in finanzielle Risikokennzahlen übersetzt. Die physischen klimabedingten Finanzrisiken standen dabei bisher weniger im Mittelpunkt, auch wenn einige Behörden den physischen Risiken die gleiche Bedeutung beimessen. Im Folgenden wird dargestellt, wie physische Risiken in den Klimaszenarien berücksichtigt werden. 

Klimaszenarien und Klimamodelle richtig einordnen

Das "Network for Greening the Financial System" (NGFS) spielt bei der Bewertung von Klimarisiken eine zentrale Rolle. Die dort empfohlenen Klimaszenarien dienen mittlerweile als Benchmark. Diesem Netzwerk gehören 65 Zentralbanken und Finanzaufsichtsbehörden an. Ziel ist es, das Klima- und Umweltrisikomanagement im Finanzsektor weiterzuentwickeln. 

Das NGFS unterteilt die physischen Klimarisiken in zwei Kategorien: chronische Risiken und akute Risiken. 

  • Chronische Risiken ergeben sich aus allmählichen Verschiebungen der biophysikalischen und klimatischen Eigenschaften aufgrund des laufenden Klimawandels. Dazu gehören zum Beispiel Veränderungen in der Arbeitsproduktivität aufgrund einer allmählichen Erwärmung oder eine Verringerung der landwirtschaftlichen Produktion aufgrund veränderter Niederschlagsmuster.
  • Akute Risiken beziehen sich auf eine veränderte Häufigkeit oder Schwere von Schocks, wie Naturkatastrophen, einschließlich Überschwemmungen, tropische Wirbelstürme, Waldbrände, Hitzewellen oder Dürren.

Im Weiteren soll es vor allem um die akuten Risiken gehen. Diese plötzlichen und schwerwiegenden Schocks könnten in naher Zukunft höchstwahrscheinlich erhebliche Auswirkungen für den Finanzsektor haben. In den Jahren 2020 und 2021 wurden akute physische Klimaschocks in den NGFS-Kernszenarien nicht explizit modelliert. Gleichwohl gab es 2021 eine Reihe separater Risikoindikatoren. Ein Teil floss in den jüngsten EZB-Stresstest ein: Dort gab es zwei Szenarien (große Überschwemmungen sowie starke Trockenheit und Hitzewelle). Ranger argumentieren zu Recht, dass vernachlässigte physische Risiken gravierende Auswirkungen auf Finanzentscheidungen haben können. Das NGSF hat jüngst die Szenarien aktualisiert und vor allem die chronischen Risiken integriert. 

Zunächst ist wichtig zu verstehen, wie physischen Klimaschocks auf die Bank- und die Versicherungsbranche wirken, sodass potenzielle Übertragungskanäle transparent werden (vgl. Abb. 01). Die Bewertung der Wirkungen dient als Grundlage für die Szenariobildung. 

Abb. 01: Übertragungskanäle für Schocks von der Realwirtschaft zum Finanzsektor [Ranger 2022]Abb. 01: Übertragungskanäle für Schocks von der Realwirtschaft zum Finanzsektor [Ranger 2022]

Das NGFS definiert sechs Risikoszenarien (vgl. Abb. 02). Die Risikoszenarien verwenden Klimaprojektionen von fünf globalen Klimamodellen, die wiederum von repräsentativen Konzentrationspfaden angetrieben werden. Das NGFS empfiehlt die Verwendung der Klimaauswirkungsszenarien, die von der sogenannten ISIMIP-Initiative (Inter-Sectoral Impact Model Intercomparison Project) gesammelt wurden, um Schätzungen des physischen Klimarisikos für Investoren durchzuführen.

Für die wirtschaftlichen Schäden stützen sich die Szenarien des NGFS zum physischen Klimarisiko (als "Schadensszenarien" bezeichnet) auf Schadensfunktionen, die in anderen Modellen entwickelt wurden (beispielsweise das von William D. Nordhaus entwickelte Dynamic Integrated Climate Economy (DICE)-Modell. Diese Szenarien werden dann in prozessbasierte Integrierte Bewertungsmodelle eingebettet, um eine Schätzung des globalen, aggregierten Verlusts des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu erhalten. Schadensfunktionen verknüpfen Klimavariable (beispielsweise die Durchschnittstemperatur) mit Wirkungsmetriken (beispielsweise BIP-Verluste), die auf ökonometrischen Analysen und anderen Nachweisen basieren. Die daraus resultierenden Trajektorien können von den Nutzern im NGFS-Szenario-Explorer berechnet werden. Diese zeigen, wie sehr empfindlich die Schätzungen der physischen Klimaverluste auf die Art der Schadensfunktion und ihre Kalibrierung reagieren.

Abb. 02: NGFS-Szenariorahmen [Quelle: Ranger 2022]Abb. 02: NGFS-Szenariorahmen [Quelle: Ranger 2022]

Es gibt heute eine Vielzahl von klimaökonomischen Bewertungsansätzen. Die Integrierten Bewertungsmodelle (IAMs) und die Allgemeinen Gleichgewichtsmodelle sind am Häufigsten im Einsatz. Seit Ende der 1970er Jahre wurde eine große Anzahl von IAMs entwickelt, um die Auswirkungen der Wirtschaftstätigkeit auf den Klimawandel und die wirtschaftlichen Kosten der Reduzierung der Umweltauswirkungen von Produktion und Konsum zu untersuchen. IAMs sind Ansätze, die Wissen aus zwei oder mehr Bereichen in einen einzigen Rahmen integrieren. Einem IAM liegt in der Regel ein linearer Zyklus zwischen Umwelt, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren zugrunde. Trotz ihres großen Beitrags zum Verständnis einiger der Zusammenhänge zwischen der gegenwärtigen Wirtschaftstätigkeit, den Umweltauswirkungen und ihren Kosten für zukünftige Wirtschaftstätigkeiten haben IAMs eine Reihe von Beschränkungen. 

Solche Modelle vermitteln ein unvollständiges Bild der Auswirkungen des Klimawandels, da sie unter anderem extreme Wetterschocks nicht berücksichtigen. Darüber hinaus fehlen in diesen Modellen mehrere durch den Klimawandel ausgelöste Phänomene wie Migrationen, Schocks bei den Ernteerträgen und soziale Instabilität in exponierten Regionen. Auch das Potenzial für kaskadierende und sich verstärkende Risiken oder nichtlineare Effekte werden nicht berücksichtigt. Die Verbindungen zwischen Klima und Ökosystemen und natürlichen Ressourcen (wie Boden, Wasser, Forstwirtschaft), die bekanntermaßen ein wichtiger Faktor für finanzielle Risiken sind ebenso unterbelichtet. Zusammengenommen bedeutet dies, dass die derzeitigen IAMs und die darauf aufbauenden Szenarien die physischen Klimarisiken unterbewerten könnten. 

Das NGFS stellt zwar seit 2021 einen Climate Impact Explorer mit einer Reihe von Indikatoren für akute Risiken wie 1-in-100-Jahre-Verluste und die Exposition der Bevölkerung gegenüber Extremen zur Verfügung. Dies ist hilfreich, um die Lücken in den Kernszenarien zu füllen, schließt jedoch nicht vollständig die vorgenannten Mängel.

Fortentwicklung der Klimaszenarien 

Insgesamt lassen sich fünf Bereiche ableiten, die bei einer physischen, klimabedingten finanziellen Risikobewertung und Szenariogestaltung zu berücksichtigen sind.

  1. In der Analyse sind die aktuellen und zukünftigen Risiken von Klimaextremen wie Wirbelstürmen, Dürren und Überschwemmungen oder Katastrophenszenarien besser abzubilden. Dazu gehört auch die Darstellung der direkten Auswirkungen extremer Wetterereignisse auf natürliche und menschliche Systeme, zum Beispiel auf die landwirtschaftliche Produktion, kritische Infrastrukturleistungen oder Ökosystemleistungen.
  2. Unsicherheiten in Klima- und Auswirkungsmodellen sind vollständig zu berücksichtigen. Das stellt sicher, dass die Szenarien den Raum möglicher zukünftiger Klimaergebnisse abdecken (und nicht nur Modelldurchschnitte).
  3. Es sind Szenarien einzubeziehen, in denen sich physische Klimaschocks mit anderen Schocks und Stressoren verbinden. Der Klimawandel wird sich nicht isoliert vollziehen, sondern dessen Auswirkungen wird mit anderen Faktoren einhergehen. Dies führt zur Verstärkung von Risiken, wie Wirtschaftszyklen und sozioökonomische Anfälligkeiten. Die Bandbreite möglicher zukünftiger Ergebnisse ist viel größer als in den aktuellen Szenarien angenommen.
  4. Die indirekten Auswirkungen von Wetterextremen auf Haushalte und Unternehmen sind zu analysieren. Makroökonomisch führt das zu den direkten Auswirkungen in Form von Zerstörung von Sachkapital oder Produktionsverlusten. Diese können einen Verstärkungsfaktor für das Risiko des Bankensektors darstellen. 
  5. Der Finanzsektor muss angemessen abgebildet werden, um sowohl den Grad der Widerstandsfähigkeit gegenüber Schocks als auch die komplexen Rückkopplungen zu erfassen. 

In den ersten drei Fällen wird das physische Risiko als exogener Schock in den Szenarien dargestellt. In den letzten beiden Problembereichen kann das Risiko als endogener (interner) Faktor innerhalb der Szenarien behandelt. Hierfür bieten sich sogenannten Agenten-basierte Modelle (ABMs) an. Die Dynamik der Wirtschaft ist gekennzeichnet durch das Zusammenwirken einer großen Anzahl heterogener Individuen, die eine Vielzahl von Entscheidungen unterschiedlicher Art treffen. Bei einem ABM wird dieses Verhalten simuliert und Hypothesen über die Zusammenhänge zwischen dem Mikroverhalten der Individuen und dem Makroverhalten der Systeme aufgestellt und untersucht. Einer der ersten Versuche, eine komplexe Volkswirtschaft zusammen mit einem Klimamodul dynamisch zu modellieren, geht auf die LAGOM-Modellfamilie zurück. Aus der Sicht der klimabezogenen ABMs können Umweltschocks die Struktur der Wirtschaft verändern, da ihre Auswirkungen je nach Bevölkerung und zwischen den Akteuren innerhalb der Bevölkerung unterschiedlich sein können. So können beispielsweise Klimaschocks die Zusammensetzung der Branchen verändern, da ihre Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität, die Energieeffizienz oder den Kapitalbestand der Unternehmen unterschiedlich sind.

Bei der Aktualisierung der Klimaszenarien hat das NGFS unter anderem auch Wetterextreme berücksichtigt (siehe Punkt 1). Bisher ging es bei den IAMs um mögliche Veränderungen der globalen Mitteltemperatur. Die akuten physischen Risiken und die materiellen Extreme, die mit dem Klimawandel auf regionaler und feinerer Ebene verbunden sind, lassen sich jedoch nicht gut durch Durchschnittswerte beschreiben. Der Finanzsektor will schließlich wissen, welche spezifischen Regionen am stärksten gefährdet sind. Wenn das finanzielle Risiko auf einen Kontinent aggregiert wird, könnten systematische Fehler gemittelt werden. Ein wesentlicher Extremfall ist immer länder-, wirtschafts- und unternehmensspezifisch. Die Aktualisierung der NGFS-Szenarien verbessert zwar die Bandbreite möglicher Klimaergebnisse, die auf Länderebene möglich sind. Dennoch verbleibt Unsicherheit, insbesondere wenn man die Szenarien auf subnationaler Ebene anwendet.  

Das grundlegendste Problem bei der Bewertung finanzieller Risiken im Zusammenhang mit akuten physischen Risiken ist, dass diese Risiken mit dem Wetter zusammenhängen. Dies geschieht in der Regel auf lokaler Ebene und mit statistischen Extremen. Pitman et al. stellen fest, dass die Verwendung globaler Klimamodelle, die keine Wetterskalen auflösen, für lokale Skalen nicht geeignet sind. Wenn Top-Down-Ansätze auf granularer Ebene Anwendung finden, können wahrscheinlich Fehler entstehen. Diese Unsicherheiten sollten in die Risikoabschätzung einfließen. Aus diesem Grund sind Bottom-up-Ansätze (Katastrophenmodellierung, Storylines) besser geeignet, akute Risiken auf lokaler Ebene zu erfassen. Dies gilt vor allem dann, wenn die Risiken als materiell eingestuft werden. 

Die Bewertung der finanziellen Auswirkungen von physischen Klimaschocks ist nicht trivial und erfordert die Nutzung von Fachwissen aus verschiedenen Disziplinen, einschließlich Klimawissenschaften, Geowissenschaften, Ingenieurwesen, Wirtschaft und Finanzen. Mit den NGFS-Szenarien hat sich ein De-Facto-Standard etabliert, der gewisse Vorzüge eines Top-Down-Ansatzes hat. Dennoch weist dieser Standard einige Schwächen auf, insbesondere was die physischen Risiken anbetrifft. Es ist daher empfehlen, dass die NGFS-Szenarien mit alternativen Bottom-Up-Methoden ergänzt werden sollten. 

Autor:

Dr. Silvio Andrae 

 

[ Bildquelle Titelbild: Adobe Stock.com / piyaset ]
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