Wer nur auf die Statistik starrt, wird dem Phänomen Risiko nicht gerecht


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Menschen konstruieren ihre eigene Realität und stufen Risiken nach ihrer subjektiven Wahrnehmung ein. Das Ergebnis dieses mentalen Prozesses ist das wahrgenommene Risiko, also ein Bündel von Vorstellungen, die sich Menschen aufgrund der Ihnen verfügbaren Informationen und des gesunden Menschenverstandes über Gefahrenquellen machen. Kurzum: Risiko ist ein Konstrukt der Risikowahrnehmung. Diese Form der intuitiven Risikowahrnehmung basiert auf in der Evolution ausgeprägten Grundmustern wie Flucht, Kampf und Totstellen, der Vermittlung von Informationen über die Gefahrenquelle, den psychischen Verarbeitungsmechanismen von Unsicherheit und früheren Erfahrungen mit Gefahren, so Ortwin Renn (Bild unten), Professor am Institut für Sozialwissenschaften an der Universität Stuttgart beim Gipfeltreffen der Risikomanager, der RISK07 in Frankfurt am Main.

Wenn etwa ein Steinzeitmensch einem Tiger begegnet ist, so bleibt ihm keine Zeit zunächst Schadeneintrittswahrscheinlichkeit und -ausmaß zu berechnen. Im bleiben nur drei Verhaltensoptionen: entweder reagiert er mit Fluchtverhalten, indem er wegrennt. Oder er reagiert mit Apathie, indem sie sich „tot stellt“. Als dritte Option kann er den Tiger angreifen.

 

Risiko ist ein Konstrukt der Risikowahrnehmung

Mit dem Begriff der Risikowahrnehmung werden in der kognitiven Psychologie alle mentalen Prozesse verstanden, bei der eine Person über die Sinne Informationen aus der Umwelt  (physische ebenso wie kommunikative) aufnimmt, verarbeitet und auswertet, so Renn auf der RISK07. „Wahrnehmungen sind eine Realität eigener Natur.“ Menschen konstruieren ihre eigene Realität und stufen Risiken nach ihrer subjektiven Wahrnehmung ein.

Interessant ist in diesem Kontext auch, dass etwa bei der (Über-)bewertung einer Katastrophe ihr tatsächliches Ausmaß, etwa die Anzahl der Toten, keineswegs immer eine Rolle spielt. „In den letzten 25 Jahren starben ca. 140 Menschen am Verzehr von parfümiertem Lampenöl. Ebenso viele Opfer beklagen wir infolge der BSE-Krise. Diese brachte den Agrarmarkt und einige Minister zu Fall – parfümiertes Lampenöl ist weiterhin frei verkäuflich.“ Dabei könnte man den Tod durch Lampenöl tatsächlich oft verhindern; ihm fallen nämlich fast ausschließlich ungenügend beaufsichtigte Kleinkinder zum Opfer.

 

Fünf verschiedene Wahrnehmungsmuster

Renn unterschied in seinem Vortrag fünf unterschiedliche Wahrnehmungsmuster von Gefahren.

Risiko als drohende Gefahr: Die Vorstellung, das Ereignis könne zu jedem beliebigen Zeitpunkt – also in der nächsten Sekunde – die betroffene Bevölkerung treffen, erzeugt das Gefühl von Bedrohtheit und Machtlosigkeit. Das Ausmaß des wahrgenommenen Risikos ist hier eine Funktion von drei Faktoren: der Zufälligkeit des Ereignisses, des erwarteten maximalen Schadensausmaßes und der Zeitspanne zur Schadensabwehr.

Risiko als schleichende Gefahr: Diese Gefahr ist sinnlich nicht wahrnehmbar.Nach diesem Risikoverständnis helfen wissenschaftliche Studien bzw. Analysen von Dritten schleichende Gefahren frühzeitig zu entdecken und Kausalbeziehungen zwischen Aktivitäten bzw. Ereignissen und deren latente Wirkungen aufzudecken. Beispiele für diese Verwendung des Risikobegriffs findet man bei der kognitiven Bewältigung von geringen Strahlendosen, Lebensmittelzusätzen, chemische Pflanzenschutzmittel oder genetische Manipulationen von Pflanzen und Tieren. 

Risiko als verdrängte Gefahr bzw. Schicksalsschlag: Natürliche Katastrophen werden meist als unabwendbare Ereignisse angesehen, die zwar verheerende Auswirkungen nach sich ziehen, die aber als „Launen der Natur“ oder als „Ratschluss Gottes“ (in vielen Fällen auch als mythologische Strafe Gottes für kollektiv sündiges Verhalten) angesehen werden und damit dem menschlichen Zugriff entzogen sind.

Risiko als abwägende Gefahr bzw. Glücksspiel: Wird das Zufallsprinzip als Bestandteil des Risikos anerkannt, dann ist die Wahrnehmung von stochastischer Verteilung von Auszahlungen dem technisch-wissenschaftlichen Risikokonzept am nächsten. Nur wird dieses Konzept bei der Wahrnehmung und Bewertung technischer Risiken so gut wie nie angewandt.

Risiko als gesuchte Gefahr: In diesem Risikoverständnis gehen Menschen Risiken ein, um ihre eigenen Kräfte herauszufordern und den Triumph eines gewonnenen Kampfes gegen Naturkräfte oder andere Risikofaktoren auszukosten. So springen etwa Menschen beim Bungee Jumping in tiefe Schluchten, klettern auf 8.000 Meter hohe Berge oder überqueren den Ozean auf einem Baumstamm. Sich über Natur oder Mitkonkurrenten hinwegzusetzen und durch eigenes Verhalten selbst geschaffene Gefahrenlagen zu meistern, ist der wesentliche Ansporn zum Mitmachen.

 

Risikokommunikation: Einsichten und Anforderungen

Im Kontext der Irrationalität der Risikowahrnehmung gewinnt insbesondere die Risikokommunikation an Bedeutung. Durch Transparenz, Verlässlichkeit und größtmögliche Offenheit kann Vertrauen unter allen Beteiligten in den Prozess der Risikobewertung herbeigeführt werden. „Kommunikation muss frühzeitig, adressatengerecht, nachvollziehbar und emphatisch sein.“ In diesem Kontext wies Renn auch darauf hin, dass Kommunikationspartner weniger an Risikoanalysen interessiert sind als an Informationen zur Risikohandhabung. „Man nimmt Informationen nur auf, wenn sie auf das eigene Leben bezogen sind, d.h. die eigenen Interessen berührt.“

 

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