Kafka als Risikomanager. Zur Paradoxie des Risikos


Risikomanagement und Dichtung – zwei Welten, so scheint es zunächst, die nichts mit einander zu tun haben: Der Dichter ringt um Worte, der Risikomanager mit den Zahlen. Der eine produziert Gedichte und Erzählungen, der andere Prognosen und Absicherungsstrategien - die Unterschiede könnten kaum größer sein. Da überrascht es, dass der vielleicht berühmteste Dichter des letzten Jahrhunderts ein Pendler zwischen diesen Welten war: Franz Kafka, der in einer Art Doppelexistenz tagsüber in einer Versicherung arbeitete und die Nächte durchschrieb. Über die Kluft, die den Risikomanager vom Dichter trennte, baute Franz Kafka in den Nächten seines letzten Lebensjahres eine Brücke: die Erzählung Der Bau [Kafka, Franz (1996): Der Bau. In: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Frankfurt am Main. S. 465-507.].

Eine Erzählung, die um die Kernfrage des Risikomanagements kreist:

Wie ist ein gelingender Umgang mit Risiken möglich?
 
Protagonist von Kafkas Erzählung ist aber kein Risikomanager, sondern ein Wesen, das die Errichtung und Sicherung eines Baus zu seinem Lebenszweck gemacht hat. Namenlos und nicht näher beschrieben stellt es in einem rastlosen Monolog die Vorzüge seiner unterirdischen Behausung vor: kein Eingang des riesigen Tunnelsystems ist von außen einsehbar, komplexe Labyrinthe verwirren potentielle Eindringlinge, versteckte und prallgefüllte Vorratskammern garantieren, nur selten den Schutz des Baus verlassen zu müssen und im Krisenfall dient ein zentraler „Burgplatz“ als nahezu uneinnehmbare Verteidigungsbastion. Ein dichtes Netz präventiver Maßnahmen minimiert die Eintrittswahrscheinlichkeit drohender Gefahren und für den Ernstfall gibt es mehrere ausgeklügelte Strategien, die ein Überleben dieses dachsartigen Wesens sichern sollen. Maximale Vorsicht leitet seine Risikostrategie an. Aber „gerade die Vorsicht verlangt leider wie so oft, das Risiko des Lebens“ [Kafka, Franz (1996): Der Bau. In: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Frankfurt am Main. S. 466] wie unser tierischer Risikomanager weiß. Gerade der Eindruck vollständiger Sicherheit, den sein perfektioniertes Risikomanagement ihm suggeriert, produziert ein Risiko zweiter Ordnung:

„kann ich denn trotz aller Wachsamkeit nicht von ganz unerwarteter Seite angegriffen werden?“[Kafka, Franz (1996): Der Bau. In: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Frankfurt am Main. S. 465]   

Die Frage legt den Finger in den wunden Punkt jeder Risikostrategie. Risikoentscheidungen sind paradox, denn sie wollen das Unbekannte mit ins Kalkül einbeziehen. Dies geschieht, indem durch Prognosen, die auf Erfahrungswissen fußen, möglichst alle Risikofaktoren eruiert werden. Der blinde Fleck solchen Vorgehens liegt in der impliziten Annahme, dass die Zukunft sich im Grunde so verhalten wird, wie es die Erfahrung mit der Vergangenheit gelehrt hat. Dies ist jedoch (glücklicherweise!) nicht der Fall.

Wie wichtig es werden kann, sich dieses blinden Flecks bewußt zu sein, zeigt die immer wiederkehrende Diskussion um die Sicherheit von Atomkraftwerken. Diese galten nach unzähligen Risikostudien als hinreichend sicher. Über das Risiko „Nuklearterrorismus“ machte man sich allerdings keine Gedanken, da in der Vergangenheit keine Anschläge auf Reaktoren ausgeübt wurden. Mangelnde Erfahrung und Berechenbarkeit führten zu der trügerischen Sicherheit, dass es ein solches Risiko gar nicht gäbe. Man schloß in aufwendigen Studien zur Reaktorsicherheit „messerscharf, daß nicht sein kann, was nicht sein darf.“ [Morgenstern, Christian (1910): Die unmögliche Tatsache. In: Palmström. Siehe hier]

In der Nachfolge der Terroranschläge des 11. Septembers verlangte eine besorgte Öffentlichkeit nach Information bezüglich dieses Terrorrisikos. Und wieder schlug die Paradoxie des Risikos zu: Risikokommunikation leistet nicht nur (beruhigende) Aufklärung, sondern vor allem und zunächst (beunruhigende) Sensibilisierung für drohende Risiken. Techniken und Kontrollen, die den Sicherheitsstandard erhöhen sollten, potenzierten deshalb zunächst nur die Verunsicherung der Bürger. Ursache dieser paradoxen Folgeerscheinung ist eine „unheilige Korrelation zwischen Risikowahrnehmung und Risikobereitschaft: je intensiver und wissenschaftlich genauer und psychisch alarmierter wir Risiken wahrnehmen, desto weniger bereit sind wir, sie zu tragen.“ [Zimmerli, Walther Ch. (1994): Technologisches Zeitalter und Ethik. In: Böhler, D. (Hrsg.): Ethik für die Zukunft. München. S. 348.]

Der Risikomanagers steckt also in der Klemme: auf der einen Seite ist ein gelingender Umgang mit Risiken nur aufgrund fundierter Information möglich. Auf der anderen Seite schwindet die Bereitschaft, sich zu einem Risiko zu entschließen, wenn es denn bestmöglich analysiert zur Entscheidung drängt. Rät der Manager als Reaktion darauf zur vermeintlich sichersten Alternative, kommt die Risikoparadoxie wiederum durch die Hintertür herein. Gerade vermeintlich sichere Optionen, bergen unbekannte Risiken. So sind beispielsweise [gerade] „Währungen mit der längsten historischen Stabilität am anfälligsten für einen Einbruch.“ [Taleb, Nassim N. (2002): Narren des Zufalls. Weinheim. S. 128.]

Gerade die Routine birgt die unangenehmsten Überraschungen – oder wie Bertrand Russel formulierte: „Das größte Risiko auf Erden tragen die Menschen, die nie das kleinste Risiko eingehen wollen.“ Wer die Risiken der Entscheidung meidet, den ereilen die Risiken der Unterlassung, die oftmals größer sind.
Kafkas „Dachs“ reagiert denkbar schlau auf diese paradoxe Problemlage. Statt sich in der scheinbar totalen Sicherheit des Baus einzuschließen und den Eingang zu verschließen, sichert nur eine dünne, abhebbare Moosschicht seine Festung, da „gerade die Vorsicht verlangt, daß ich eine sofortige Auslaufmöglichkeit habe.“ So managed der „Dachs“ nicht nur die Risiken, die er vorhersieht, sondern auch noch das Risiko, eine Gefahrenquelle übersehen zu haben. Wer die schmerzhafte Erfahrung machen mußte, alles außer dem eigenen Irrtum bedacht zu haben, weiß, wie gut der „Dachs“ damit beraten ist. Eine Moral von der Geschicht rät folglich zur unbedingten Skepsis gegenüber eigenen Prognosen. Nicht um entschlossenes Handeln zu unterminieren, sondern um die Möglichkeit einer flexiblen Fehlerkorrektur zu wahren.

Der Zwang als kompetenter Macher auftreten zu müssen verdrängt oft diese notwendige Skepsis aus dem Fokus des Risikomanagements. Der Fakt, dass gerade als schwärmerisch geltende Dichter nüchtern zu dieser Skepsis aufrufen, ist eine der Unvorhersehbarkeiten, die auch Risikosituationen auszeichnet. Weniger phantastisch als maximal nüchtern, sekundiert Gottfried Benn in diesem Zusammenhang seinem Dichterkollegen. Drei Grundregeln gibt er an die Hand, die in der Praxis des Risikomanagements unverzichtbar sind und jedem Entscheider stetig bewußt sein sollten:

  1. Erkenne die Lage.
  2. Rechne mit Deinen Defekten. […]
  3. Nochmals: Erkenne die Lage.

[Benn, Gottfried (1984): Der Ptolemäer. In: Prosa und Autobiographie in der Fassung der Erstdrucke. Frankfurt am Main. Zit nach: Lethen, Helmut (2006): Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit. Berlin. S. 245.]

Dichter kann man es nicht auf den Punkt bringen.

 

Zum Autor:

Henrik Pontzen arbeitet als Finanz- und Anlageberater in Düsseldorf und verfasst zur Zeit seine Dissertation zum Thema Risikoethik.

E-Mail: henrikpontzen@hotmail.com

 

[Bildquellen: Wikipedia]

 

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