Köpfe des Risikomanagements

Augustin Louis Cauchy, Pionier der Analysis


Köpfe

Augustin Louis Cauchy (* 21. August 1789 in Paris; † 23. Mai 1857 in Sceaux) war ein französischer Mathematiker und gilt als Pionier der Analysis. So führte er u. a. die strenge Beweisführung in die Analysis ein. Nach ihm wurde die Cauchy-Verteilung (oder auch t-Verteilung, Lorentz-Verteilung bzw. Breit-Wigner-Verteilung bekannt) benannt, die als Prototyp einer Verteilung gilt, die weder Erwartungswert noch Varianz oder Standardabweichung besitzt, da die entsprechenden Integrale nicht definiert sind.

Augustin Louis Cauchy entstammt einer streng katholischen Familie. Sein Vater Louis-François war zur Zeit der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 die rechte Hand des Lieutenant Général der Polizei von Paris, Louis Thiroux de Crosne. Wenige Wochen nach den turbulenten Zeiten in den Straßen von Paris – aber immer noch mitten in den turbulenten Zeiten der französischen Revolution – wurde Augustin Louis geboren. Nachdem im April 1794 Thiroux de Crosne nach Paris zurückkehrte, sofort verhaftet und zum Tode verurteilt wurde, floh Louis-François mit seiner Familie nach Arcueil, wo sie auf dem Land in Armut und Hunger lebten. Als Kind der Revolution zahlte er der Freiheit und Gleichheit seinen Tribut und wuchs unterernährt auf. Der Hunger und die bittere Armut hinterließen bei Augustin Louis eine lebenslange Abneigung gegen Revolutionen. Im Landhaus in dem Dorf Arcueil kümmerte sich Cauchy senior um die Ausbildung seiner Kinder und schrieb u. a. seine eigenen Lehrbücher. Ein großer Teil der Lektionen galt der sorgfältigen religiösen Unterweisung, wobei ihn die Mutter tatkräftig unterstützte.

"Eines Tages wird dieser Junge uns simple Geometer alle übertreffen."

Arcueil grenzte an die stattlichen Güter des Marquis Laplace. Während des Aufenthalts in Arcueil stattete Laplace von Zeit zu Zeit dem Häuschen seines Freundes Cauchy einen Besuch ab. Dabei fiel ihm auch der junge Cauchy auf, der körperlich zu schwach war, um herumzutollen, und stattdessen wie ein büßender Mönch über seinen Büchern und Papieren saß. Laplace erkannte bald die  phänomenale mathematische Begabung des Knaben und riet ihm, mit seinen Kräften hauszuhalten. Schon ein paar Jahre später lauschte Laplace besorgt Cauchys Darlegungen über unendliche Reihen, weil er fürchten musste, die Entdeckungen des kühnen jungen Mannes über die Konvergenz könnten möglicherweise das Riesengebäude seiner eigenen Himmelsmechanik zum Einsturz bringen. Nachdem in Paris wieder Ruhe eingekehrt war, kehrte die Familie nach Paris zurück und Vater Louis-François wurde zum 1. Januar 1800 Generalsekretär des Senats. Dies führte zu einer engen Bekanntschaft mit dem damaligen Innenminister Pierre-Simon Laplace und dem Senator Joseph-Louis Lagrange, zwei bedeutenden Mathematikern. Sein Amtssitz war im Palais du Luxembourg. Der junge Cauchy durfte in einer Ecke des Büros seinen Studien nachgehen. So kam es, dass er häufig Lagrange begegnete, der damals Professor an der Polytechnique war. Auch er erkannte recht früh das mathematische Talent des Sohns, so soll etwa Lagrange gesagt haben: "Eines Tages wird dieser Junge uns simple Geometer alle übertreffen."

Lagrange gab Cauchy senior einige vernünftige Ratschläge, weil er fürchtete, der zarte Knabe könnte sich vorzeitig erschöpfen: "Lassen Sie ihn kein Mathematikbuch anrühren, bevor er siebzehn ist." Lagrange meinte damit vor allem die höhere Mathematik. Er fuhr fort: "Wenn Sie Augustin nicht bald eine solide Allgemeinbildung geben, wird seine Neigung ihn fortreißen; er wird ein großer Mathematiker sein, aber unfähig, seine eigene Sprache zu schreiben." Der Vater nahm sich diesen Rat des größten Mathematikers seiner Zeit zu Herzen und verschaffte seinem Sohn eine gute literarische Bildung.

So besuchte Augustin Louis ab dem Jahr 1802 zwei Jahre lang die École Centrale du Panthéon, wo er besonders in Latein und Griechisch glänzte. Daraufhin entschied er sich, die Ingenieurslaufbahn einzuschlagen, und nahm ab 1804 Mathematikunterricht, der ihn für die Aufnahmeprüfung an der jungen École Polytechnique vorbereiten sollte. Im Jahr 1805 trat er im Alter von sechzehn Jahren als zweitbester Bewerber in die Polytechnique ein. Von der Polytechnique wechselte Cauchy im Jahr 1807 in die staatliche Ingenieurschule (École Nationale des Ponts et Chaussées) und konzentrierte sich auf Straßen- und Brückenbau. Auch hier war er unter den Besten und durfte in seinem Praktikum unter Pierre Girard am Ourcq-Kanal mitarbeiten. Nach zwei Pflichtstudienjahren verließ er die Universität im Januar 1810 als aspirant-ingénieur.

Der Ingenieur Napoleons

Zu jener Zeit hoffte Napoleon immer noch, England durch eine Invasion in die Knie zwingen zu können. Dazu brauchte es aber eine gewaltige Flotte. Diese musste jedoch erst gebaut werden. Befestigte Häfen zum Schutz der Schiffswerften waren die vordringlichste Notwendigkeit für diese hochfliegenden Pläne. Daher wurde Cauchy im Februar 1810 den Auftrag, beim Bau des Hafens Port Napoléon in Cherbourg mitzuhelfen. Ziel war die Vorbereitung der Invasion Englands. Die Arbeiten waren umfangreich, und in seiner knappen Freizeit beschäftigte er sich mit der Mathematik. Cauchy blieb ungefähr drei Jahre in Cherbourg. In einem Brief vom 3. Juli 1811 schreibt er: „Ich stehe um vier Uhr auf und bin vom Morgen bis zum Abend tätig […] Die Arbeit ermüdet mich jedoch nicht. Im Gegenteil, sie kräftigt mich, und ich bin bei bester Gesundheit.“ Die militärischen Rückschläge vor Moskau im Jahr 1812 und bei Leipzig im Jahr 1813 lenkten Napoleon von seinem Traum einer Invasion Englands ab und ließen die Arbeiten in Cherbourg erlahmen. Im Jahr 1813 kehrte daher Cauchy nach Paris zurück. Er war erst 24 Jahre alt, hatte aber bereits die führenden Mathematiker Frankreichs durch seine glänzenden Forschungen auf sich aufmerksam gemacht, insbesondere durch die  Abhandlungen über Polyeder und über symmetrische Funktionen. So reifte auch recht schnell sein Entschluss, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen.

Mit seiner 1814 erschienenen Abhandlung über bestimmte Integrale mit komplexen Zahlen als Grenzen stieg Cauchy in die Reihe der führenden Mathematiker seiner Zeit auf. Der einzig ernsthafte "Konkurrent" war der schweigsame Gauß, zwölf Jahre älter als er, der 1811 zu diesem grundlegenden Satz gelangt war, drei Jahre vor Cauchy. Im Jahr 1815 erregte Cauchy Aufsehen, als er einen der großen Sätze bewies, die Fermat einer ratlosen Nachwelt hinterlassen hatte: Jede positive ganze Zahl ist die Summe von drei "Dreiecken", vier "Quadraten", fünf "Fünfecken", sechs "Sechsecken" et cetera, wobei Null in jedem Fall als Zahl der betreffenden Art mitgezählt wird.

Professor an der École Polytechnique

Die endgültige Niederlage Napoleons im Jahr 1815 verschaffte Cauchys Karriere einen rasanten Auftrieb. Ludwig XVIII. wurde jetzt König von Frankreich, und mit ihm gelangten reaktionäre Kräfte an die Macht. Augustin Louis erhielt im November 1815 eine Stelle als Assistenzprofessor an der École Polytechnique und bereits im Dezember eine volle Professur. Im März 1816 wurde die Académie des Sciences vom König selbst umgestaltet, zwei liberale Mitglieder entfernt und die freiwerdenden Plätze durch erzkonservative Wissenschaftler wie Cauchy besetzt, der den Platz von Gaspard Monge einnahm.

Seine Schaffenskraft als Mathematiker war unfassbar. Nicht selten unterbreitete er in einer einzigen Woche der Akademie zwei volle Abhandlungen. Zusätzlich zu seinen eigenen Forschungen schrieb er zahllose Berichte über Abhandlungen, die von anderen der Akademie vorgelegt wurden. Zwischendurch fand er noch Zeit zu einer fast ununterbrochenen Folge von kurzen Aufsätzen über so gut wie alle Gebiete der Mathematik.

Im Juli 1830 wurde der reaktionäre König Karl X. gestürzt und durch den liberalen Bürgerkönig Louis Philippe ersetzt. Die Studenten der École Polytechnique spielten eine nicht unbedeutende Rolle in den Pariser Straßenkämpfen. Für Cauchy war dies alles zu viel. Und so verließ er im September die Stadt und ließ seine Familie zurück. Zunächst ging er in die Schweiz, nach Freiburg im Üechtland, einer Hochburg der Jesuiten. Bald darauf erfuhr der König von Sardinien, dass der berühmte Cauchy ohne Stelle war, und machte ihn zum Professor für theoretische Physik in Turin. Rasch lernte Cauchy die italienische Sprache und hielt Vorlesungen. Bereits im Jahr 1833 verließ er die Stadt, um sich Karl X. auf dem Hradschin in Prag anzuschließen, und wurde Hauslehrer dessen Enkels Heinrich, des Herzogs von Bordeaux. Cauchy wurde aufgrund seiner wissenschaftlichen Meriten und seiner Nähe zu den Jesuiten ausgewählt, den Prinzen in Mathematik und den Naturwissenschaften, insbesondere Chemie und Physik, zu unterrichten. Der Prinz jedoch zeigte keinerlei Interesse oder Begabung für Mathematik und er verstand von dem, was Cauchy ihm erzählte, herzlich wenig. Bis zu seinem 18. Lebensjahr, als seine Ausbildung beendet wurde, entwickelte er eine ausgiebige Abneigung gegen Mathematik. Cauchy zeigte als Lehrer keinerlei Autorität, und der verwöhnte Bourbonenprinz tanzte ihm nach Belieben auf der Nase rum und trieb derbe Späße mit ihm.

800 Artikel und diverse Bücher

Karl X. belohnte ihn für seine Dienste mit dem Titel eines Barons, auf den Cauchy ab da viel Wert legte. Aufgrund der schlechten Gesundheit seiner Mutter, die dann auch 1839 starb, kehrte er wieder nach Paris zurück. Cauchy war nun in der schwierigen Situation, dass er wegen seiner Weigerung, den Treueid auf den König zu schwören, keine Professur mehr innehatte. Zwar war er weiterhin Mitglied der Académie des Sciences und konnte so am wissenschaftlichen Leben teilhaben und publizieren, allerdings konnte er sich auf keine neue Stelle bewerben. Eine Ausnahme war das Bureau des Longitudes, in dem der Treueid nicht so eng gesehen wurde, weswegen er sich entschloss, sich dort auf eine freiwerdende Stelle zu bewerben. Cauchy setzte sich auch Ende 1839 durch, allerdings stellte sich die Regierung quer: ohne Eid keine formelle Einstellung. Die nächsten vier Jahre wurde dies am Bureau geflissentlich ignoriert. Cauchy war nun also wieder Professor, allerdings ohne Salär.

Damit begann eine seiner schaffensreichsten Perioden. In Prag hatte Cauchy so gut wie nichts veröffentlicht, allerdings über vieles nachgedacht, und die reifen Ideen brachte er jetzt zu Papier. Zwischen 1839 und Februar 1848 veröffentlichte er über 300 Artikel. Rechnet man ein, dass er 1844 nicht forschte, so bleibt fast ein Artikel die Woche, eine unglaubliche Schaffensgeschwindigkeit. Sein Gesamtwerk umfasst 789 Arbeiten und zahlreiche Bücher.

Die Februarrevolution brachte nicht, wie von Cauchy erhofft, seinen ehemaligen Schüler Henri auf den Thron, sondern Napoléon III. Auch diesem wollte Cauchy keinen Treueid schwören. Die neue Regierung machte aber für Frankreichs größten Mathematiker eine Ausnahme. So erhielt er 1849 eine Professur.

Im Gegensatz zu vielen seiner Vorgänger, die ihre Anregungen aus der praktischen Anwendung der Mathematik empfingen, entwickelte Cauchy seine Theorien um ihrer selbst willen, ohne zu fragen, ob das von ihm Erdachte anwendbar war, und sei es auch, nur auf andere Gebiete der Mathematik. Er drang tiefer ein, sah die Verfahren und die Gesetze ihrer Zusammenhänge hinter den algebraischen Formeln, isolierte sie und gelangte so zur Gruppentheorie. Heute ist diese elementare und dennoch verwickelte Theorie in vielen Gebieten der reinen und der angewandten Mathematik von grundlegender Bedeutung, von der Theorie algebraischer Gleichungen bis zur rechnerischen Darstellung des Atomaufbaus. Sie liegt auch der Geometrie der Kristalle zugrunde, um nur eines ihrer Anwendungsgebiete zu nennen. Ihre späteren Weiterentwicklungen reichen weit in die höhere Mechanik und in die moderne Theorie der Differentialgleichungen hinein.

Augustin Louis Cauchy starb 1857 in Sceaux bei Paris im Kreis seiner Familie.


"Ich bemühte mich, den Methoden (der Analysis) die ganze Strenge zu geben, die in der Geometrie verlangt wird, indem ich mich nie auf die Gründe verließ, die sich aus der Allgemeinheit der Algebra ergeben. […] Auch ist zu beachten, dass man dazu neigt, algebraischen Formeln unbeschränkte Gültigkeit beizumessen, während in Wirklichkeit die Mehrzahl dieser Formeln nur unter gewissen Bedingungen und für gewisse Werte der in ihnen vorkommenden Größen gelten."

 

Download des Artikels aus RISIKO MANAGER 24/2007:



Quellenverweise und weiterführende Literaturhinweise:

Romeike, F. (2007): Pierre-Simon (Marquise de) Laplace (Köpfe der Risk-Community), in: RISIKO MANAGER, Ausgabe 3/2007, Seite 20.

Bell, E. T.: Men of Mathematics, New York 1986.

Belhoste, B. (1991): Augustin-Louis Cauchy. A biography, New York 1991.

Gottwald, S.; Ilgauds, H.-J., Schlote, K. H. (2006): Lexikon bedeutender Mathematiker, Frankfurt/M. 2006.

Spalt, Detlef D. (1996): Die Vernunft im Cauchy-Mythos, Frankfurt/M. 1996.

de.wikipedia.org/wiki/Augustin_Louis_Cauchy (Stand: 12.11.2007)



 

[Autor: Frank Romeike, Chefredakteur RISIKO MANAGER]

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