Dezentralisierte Plattformen

Agieren ohne Chefs


Dezentralisierte Plattformen: Agieren ohne Chefs Kolumne

Das Weltwirtschaftsforum schätzt, dass im kommenden Jahrzehnt etwa 30 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts auf digitale Plattformen entfallen werden. Diese Plattformen bilden die zentrale Organisationsform der Informationswirtschaft. Diese Plattformen bieten die Online-Infrastruktur zur Erleichterung von Transaktionen für Aktivitäten wie das Teilen digitaler Inhalte (beispielsweise youtube) oder den Handel mit Waren und Dienstleistungen (beispielsweise alibaba). 

Seit ein paar Jahren beobachten wir den Aufstieg einer neuen Art von Plattform: die dezentralisierten Plattformen. Solche Plattformen, wie Bitcoin oder Ethereum, haben Millionen von Nutzern und Tausende von Mitwirkenden. Gleichzeitig weisen sie eine Marktbewertung auf, ohne dass es einen Plattformeigentümer gibt. Sie stützen sich auch nicht auf die Autorität des Managements, um die Strategie zu koordinieren, wie es von Plattformen wie Meta in den Vereinigten Staaten, Yandex in Russland, Kakao in Südkorea und Tencent in China bekannt ist. 

Damit stoßen die bekannten Erklärungsmuster von zentralen Plattformen an ihre Grenzen. Bei letztgenannten Plattformtypen wird meistens auf die Netzwerkeffekte der Plattformen und die Strategien von Plattformeigentümern abgestellt. Diese Eigenschaften lassen sich nicht ohne weiteres auf dezentrale Umgebungen übertragen. In diese Lücke springt eine aktuelle Studie, die solche dezentralisierten Plattformen genauer unter die Lupe nimmt. Die überraschende Erkenntnis ist, dass das Management einer Organisation ohne Führungsautorität florieren kann. Die beiden Autoren erläutern, wie solche Plattformen in der Praxis ihre Aktivitäten koordinieren. Daraus lassen sich wichtige Schlussfolgerungen auf die neuen Organisationsformen im künftigen Internet ziehen. 

Die Autoren identifizieren drei Mechanismen, die einer dezentralen Koordination zugrunde liegen. In Abwesenheit von Hierarchien schaffen diese Plattformen gegenseitige Anpassung durch dezentralisierte

  • algorithmische Koordination, die Raum und Zeit für Teilnehmer aufrechterhält; 
  • soziale Koordination, die einen Konsens über das Design und die Funktionsweise der Plattform unter den Mitwirkenden herstellt sowie 
  • Zielkoordination, die die Erwartungen an die langfristige Entwicklung der Plattform abstimmt. 

In dezentralen Umgebungen besteht das Koordinationsproblem, dass niemand die Autorität hat, eine Entscheidung durchzusetzen. Der Schlüssel zur Lösung dieses Problems sind transparente und vorhersehbare Anreize, die in Algorithmen eingebaut werden. Es werden Mechanismen etabliert, mit denen sich die Mitwirkenden ähnlich wie in einem Unternehmen monetäre Belohnungen verdienen können.

Dezentralisierung kann trotz aller scheinbaren Widrigkeiten zum Funktionieren gebracht werden kann. Im Gegensatz zur vorherrschenden Ansicht, dass Dezentralisierung binär (als Gegensatz zur Zentralisierung) und strukturell (als formales Designmerkmal) ist, zeigen die Studienergebnisse, dass Dezentralisierung sowohl unscharf als auch relational ist. 

Dezentralisierte Plattformteilnehmer bilden eine eng vernetzte Gemeinschaft. Sie stützt sich in ganz unterschiedlichem Maße auf neuartige Formen der formellen und informellen Koordination anstelle einer Hierarchie. Die Plattformteilnehmer müssen eine Dezentralisierung aushandeln, die häufig ein fragiles Gleichgewicht darstellt. Dieses Gleichgewicht wird durch das sorgfältige Ausbalancieren ausgeklügelter Koordinationsmechanismen erreicht. 

Aus praktischer deckt die Studie Designaspekte auf, die für Entwickler, Unternehmen und Investoren von Interesse sein können, die die nächste Evolutionsphase des Internets (manchmal als "Web3" bezeichnet) mitgestalten. Sie rechnen mit einer grundlegenden Neugestaltung digitaler Plattformen und der Verbreitung neuer organisatorischer Artefakte, zu denen auch digitales Eigentum wie nicht-fungible Token (NFTs) gehören. 

Dezentrale Plattformorganisationen

Blockchain-Umgebungen sind prädestiniert für ein hohes Maß an Dezentralisierung. Formal handelt es sich um eine dezentrale, transaktionale Datenbank, die validierte Transaktionen für eine große Anzahl von Teilnehmern ermöglicht. Blockchain ermöglicht die Gestaltung digitaler Plattformen ohne zentralisierte Aufgabenzuweisung (Teilnehmer wählen sich selbst Aufgaben aus) und ohne Top-Down-Ressourcenzuweisung (Teilnehmer stellen freiwillig Ressourcen zur Verfügung). Die Mitwirkenden werden belohnt. Aber die Entlohnung basiert nicht auf Arbeitsverträgen oder Managementbewertungen, sondern die Belohnungen werden algorithmisch bestimmt. Keine Instanz zentralisiert die Informationen, die durch die Aktivitäten der Plattform generiert werden. Die Nutzer sind in Bezug auf den Informationszugang und die Entscheidungsfindung gleichberechtigt. 

Im engen Zusammenhang damit steht die Frage des Vertrauens. Im Allgemeinen wird angenommen, dass das Design der Blockchain für ein vollkommen vertrauensloses System sorgt. Dem ist nicht so. Das Vertrauen wird nicht eliminiert oder gar minimiert, sondern auf die Entwickler der Software und die großen Miner verlagert. Das heißt, diese Personen üben eine uneingestandene und nicht rechenschaftspflichtige Macht aus. Diese Diskussion ist häufig ein Tabu. Man kann soweit  gehen, diese Personen als Erfüllungsgehilfen anzusehen. 

Dezentralisierte digitale Plattformen starteten vor allem im Bereich der Kryptowährungen. Sie haben sich mittlerweile in allen Branchen ausgebreitet. Plattformen wie beispielsweise LooksRare fordern ihre zentralisierten Pendants (zum Beispiel Christie's und OpenSea) heraus. Im Bereich der Webdienste bietet das "InterPlanetary File System" (IPFS) eine Peer-to-Peer-Wolke als Alternative zu zentralisierten Clouds, wie sie von Dropbox und Apple angeboten werden. Das IPFS stützt sich bei der Bereitstellung seines Kerndienstes nicht auf die Blockchain. Die Blockchain ist also weder notwendig noch hinreichend für eine dezentralisierte Koordination.

Und hier kommen die "Dezentralen autonomen Organisationen" (DAOs) als eine Organisationsform der dezentralisierten Plattform ins Spiel. Der Name DAO leitet sich von dem Konzept einer Firma ab, die durch einen auf einer Blockchain geschriebenen Code geschaffen und gesteuert wird. Die DAO verkauft Security-Token im Austausch gegen Ether, die Währung des Ethereum-Netzwerks. Die Besitzer der DAO-Token haben das Recht, darüber abzustimmen, wie die DAO das von ihr aufgebrachte Kapital verwenden würde. Oder sie haben Anspruch auf die Gewinne, die aus den Investitionen der DAO fließen könnten. Mitte des letzten Jahres gab weltweit es mehr als 5.000 aktive DAOs. 

Allgemeiner formuliert: DAOs sind intelligente Verträge, die eine Gesellschaft bilden, deren Satzung und Regeln im Code kodifiziert sind. So wie die Aktionäre einer traditionellen Aktiengesellschaft über die Direktoren abstimmen, können die Eigentümer der DAO darüber abstimmen, welche Projekte die DAO in Angriff nehmen soll. Das hinter der dezentralisierten Koordination liegende Prinzip ist: Jede Institution folgt der Logik der Börse – wenn die Dinge gut laufen, steigt der Wert. Das schafft eine Art von Disziplinierungsmechanismus.

Bereits 1840 bemerkte Tocqueville, dass seine Zeitgenossen "incessantly tormented by two hostile passions: … the need to be led and the desire to remain free." (zitiert in Schrepel, 2021:275). 

Autor: 

Dr. Silvio Andrae 

 

[ Bildquelle Titelbild: Adobe Stock.com / mristau ]
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