Flexibilität statt Disziplin

Deutschland auf dem Abstellgleis?


Deutschland auf dem Abstellgleis? Kolumne

Beim Ordnen meines Bücherschrankes stieß ich dieser Tae auf ein interessantes Buch, das ich lange nicht in der Hand gehalten hatte. Es ist Mancur Olsons "The Rise and Decline of Nations" ("Aufstieg und Fall von Nationen"). Olson ist ein amerikanischer Professor und gehört zu den führenden Ökonomen des 20. Jahrhunderts. In dem Buch beschäftigt er sich mit der Frage, warum einzelne Volkswirtschaften zeitweise hohe Wachstumsraten haben und warum sie dann wieder zurückfallen.

Olsons These: Hohes Wachstum gibt es nur, wenn die Wirtschaft durch Reformen in Schwung gebracht wird. In ruhigen Zeiten gewinnen Interessengruppen immer mehr Macht und Einfluss. Sie höhlen den Wettbewerb als Wachstumstreiber aus. Sie schwächen die Effizienz der Wirtschaft. Am Ende lässt die gesamtwirtschaftliche Dynamik nach. In einer stabilen Demokratie, so Olsons Schlussfolgerung, ist es auf Dauer unausweichlich, dass es zu Stagnation kommt.

Deutschland wird abgehängt: Reales BIP in % yoy [Quelle: IWF]

Deutschland wird abgehängt: Reales BIP in % yoy [Quelle: IWF]

Man könnte es auch so formulieren: Stabilität ist gut. Sie erhält nicht nur den Geldwert. Sie bringt den Menschen in der Gesellschaft auch Sicherheit, Frieden und Ruhe. Der Preis aber ist, dass sie sich auf lange Sicht mit weniger Wohlstand abfinden müssen. Olsons politischer Ratschlag: "Ich bin der Überzeugung, dass eine kleine Rebellion hier und da etwas Gutes ist; sie ist in der Welt der Politik so notwendig wie Stürme in der physischen Welt".

Das Buch ist 1982 erschienen. Die Thesen passen aber immer noch. Man kann sie auch auf die aktuelle Situation in Deutschland anwenden. Vor 15 Jahren gab es in der Bundesrepublik die Hartz IV-Reformen, die die Verkrustungen des Sozialstaates aufbrachen. Das führte zu einem kräftigen Wachstumsschub. Jetzt ist es damit vorbei. Die Bundesrepublik ist in die Phase der Stabilität eingetreten. Es gibt keine größeren Reformen mehr. Die Politik beschränkt sich weitgehend auf Wohltaten für die Wähler. Siehe der Koalitionsvertrag, der in Deutschland jetzt ausgearbeitet wurde.

Aber, was Wunder, ganz entsprechend der Olsons'schen Theorie entstehen wieder Verkrustungen. Interessenverbände erstarken. Symptomatisch sind die ewig langen Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung nach der letzten Bundestagswahl. Sie zeigten, wie schwierig Kompromisse zwischen den verschiedenen Lagern geworden sind.

Das gesamtwirtschaftliche Wachstum ist zwar noch hoch. Das liegt aber allein an konjunkturzyklischen Faktoren sowie der expansiven Finanzpolitik. Der langfristige Wachstumstrend ist schon seit einiger Zeit nach unten gerichtet.

Nun könnte man sagen: Ist doch nicht so schlimm. Warum braucht man hohe Wachstumsraten, wenn die Menschen zufrieden sind? Auch eine Gesellschaft braucht mal Ruhephasen. Das Problem ist nur: Wir haben wegen der Zuwanderung und wegen vieler gesellschaftlicher Spannungen durch die Flüchtlinge ohnehin keine Ruhepause. Zudem sind wir nicht allein in der Welt. Rund um Deutschland sind Länder, die sich derzeit in einer ganz anderen Phase der Entwicklung befinden. Sie sind in der Eurokrise zu Reformen gezwungen wurden, die sich nun in höheren Wachstumsraten auswirken.

In der Grafik habe ich die Verhältnisse in Deutschland und Frankreich nach den Prognosen des IWFs gegenübergestellt. In Deutschland gehen die Wachstumsraten zurück.

In Frankreich steigen sie an. Frankreich erlebt derzeit Ähnliches wie Deutschland vor 15 Jahren. Es bricht alte Strukturen auf, zerstört die Macht der eingefahrenen Interessengruppen und legt damit neue Wachstumskräfte frei. In diesem Jahr könnte es sein, das Frankreich in Sachen wirtschaftlicher Dynamik an der Bundesrepublik vorbeizieht.

Frankreich ist kein Einzelfall. In Spanien und Irland sind die Wachstumsraten aus ähnlichen Gründen schon vor ein paar Jahren hoch gegangen. Es gibt inzwischen im Euroraum nur noch drei Länder, die eine geringere Dynamik als Deutschland haben: Belgien, Portugal und Italien. Alle anderen wachsen schneller, selbst Griechenland. Bei vielen stehen Reformen dahinter, die das Wachstum ankurbelten. Deutschland hat Reformen in anderen Ländern angestoßen (wenn man will, vielleicht sogar erzwungen). Es hat aber nichts getan, um selbst Reformen auf den Weg zu bringen und damit wettbewerbsfähiger zu werden.

Jetzt kommt die Quittung. Deutschland fällt im innergemeinschaftlichen Machtgefüge zurück. Es wird im Euro bald nicht mehr das wirtschaftlich erfolgreichste Land sein. Das hat auch politische Folgen. Unabhängig von den Schwierigkeiten der Regierungsbildung wird die deutsche Kanzlerin nicht mehr die alleinige Führungsposition im Euro einnehmen.  

Sie wird die deutschen Vorstellungen von der Zukunft der Union nicht mehr so einfach durchsetzen können wie bisher. Die Gemeinschaft insgesamt wird sich ändern. Sie wird weniger auf Austerität und fiskalpolitische Solidität setzen. Statt Disziplin wird Flexibilität eine größere Rolle spielen. Die Einflussmöglichkeiten der nationalen Parlamente (vor allem des deutschen Bundestages) werden geringer.

Die Börsen stehen derzeit im Bann der Turbulenzen durch die hohe Volatilität. Sie interessieren sich im Augenblick nicht für die Veränderung der Machtpositionen in Europa. Das wird sich aber ändern. Wenn es wieder normalere Verhältnisse gibt, werden die Börsen der Reformländer interessanter. Sie werden sich vermutlich relativ besser entwickeln und manchen Rückstand der letzten Jahre aufholen. Schauen Sie sich diese Länder an. Vor allem Frankreich müsste besser performen. Negativ ist die zu erwartende Aufweichung der Disziplin in der Währungsunion. Das müsste den Euro tendenziell schwächen. Es wird sich aber erst später auf die Devisenmärkte auswirken.

Autor: 

Dr. Martin W. Hüfner, Chief Economist, Assenagon Asset Management S.A.

Dr. Martin W. Hüfner, Chief Economist, Assenagon Asset Management S.A.

[ Bildquelle Titelbild: Adobe Stock ]
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