Talebs Welt ist chaotisch, überraschend, unberechenbar

Der schwarze Schwan im Risikomanagement


Bevor Australien entdeckt wurde, waren die Menschen in der Alten Welt überzeugt, alle Schwäne seien weiß. Diese Überzeugung war unanfechtbar, da sie durch die empirische Evidenz anscheinend völlig bestätigt wurde. Als der erste schwarze Schwan gesichtet wurde, wurde das bisherige Gedankengebäude schwer erschüttert. Die Schwarze-Schwan-Illustration veranschaulicht eine schwerwiegende Beschränkung bei unserem Lernen durch Beobachtung oder Erfahrung und die Zerbrechlichkeit unseres (historischen) Wissens. Da die meisten Beobachter über den eigenen Tellerrand nicht hinausschauen, war für sie klar, dass alle Schwäne weiß sind. Es lag schlichtweg außerhalb der eigenen Vorstellungskraft, dass schwarze (Trauer-)Schwäne  in allen Bundesstaaten Australiens vorkommen, sowohl  auf dem Festland wie auch in Tasmanien. Der Trauerschwan ist sogar das offizielle Wappentier Westaustraliens und wird in der Staatsflagge dargestellt.

Nassim N. Taleb, Gründer und Inhaber der Trading-Firma Empirica Capital LLC und Autor des Buches "The Black Swan", beschäftigt sich in seinem Buch mit äußerst unwahrscheinlichen Ereignissen, eben mit schwarzen Schwänen. Und er behauptet, dass wir systematisch die schmerzhaften Folgen von Extremereignissen unterschätzen. Talebs Analyse ist einfach und schlicht: Wir denken in schlüssigen Geschichten, verknüpfen Fakten zu einem stimmigen Bild, nehmen die Vergangenheit als Modell für die Zukunft. So schaffen wir uns eine Welt, in der wir uns zurechtfinden. Aber die Wirklichkeit ist anders: chaotisch, überraschend, unberechenbar.

Diese Erkenntnis ist nicht neu: Der französische Mathematiker Benoît B. Mandelbrot kritisiert seit Jahrzehnten viele traditionelle Risikomodellierungsansätze, da sie die Realität nur sehr eingeschränkt abbilden würden. Die meisten Risikomodelle der Banken und Versicherungsunternehmen sind blind für Extremereignisse. Dies hänge vor allem damit zusammen, dass sie auf der Annahme der Gaußschen Normalverteilung basieren. Viele Prozesse aus der Natur und Gesellschaft, vor allem solche, in denen mehrere Faktoren unabhängig voneinander in verschiedene Richtungen wirken, lassen sich durch Normalverteilungen entweder exakt oder wenigstens näherungsweise sehr gut beschreiben. Mandelbrot: "Viele Phänomene kann man durch die Glockenkurve sehr gut darstellen. … Aber das Hauptproblem: sie erlaubt nicht, extreme Fälle zu erklären. Wenn es extrem hoch geht oder extrem runter. … Das widerspricht der Realität des Marktes völlig. Die Prozesse erlauben nicht, die extremen Kurssprünge zu erklären. Aber an der Börse sind eben jene Kurssprünge besonders wichtig. ... Wenn man die letzten zehn Jahre nimmt, sind es nicht die normalen Handelstage, die wichtig sind für große Gewinne und Verluste, sondern die Tage, an denen es dramatische Ausreißer gab. Also nicht die Werte innerhalb der Glockenkurve, sondern jene, die außerhalb der Kurve lagen."

Und Talebs Buch beschäftigt sich mit den Phänomenen jenseits der Glockenkurve. "Fat Tails" (also die langen Schwänze in Verteilungsfunktionen) oder "Schwarze Schwäne" können – so Taleb – durch drei Eigenschaften beschrieben werden: Es ist erstens ein Ausreißer, d. h. es liegt außerhalb des Bereichs der regulären Erwartungen, da nichts in der Vergangenheit überzeugend auf seine Möglichkeit verweisen kann. Es hat zweitens enorme Auswirkungen. Drittens bringt die menschliche Natur uns trotz seines Status als Ausreißer dazu, im Nachhinein Erklärungen für sein Eintreten zu konstruieren, um es erklärbar und vorhersagbar zu machen. Die drei Attribute sind also Seltenheit, massive Auswirkungen und Vorhersagbarkeit im Rückblick.
Wer weiß, dass es Schwarze Schwäne gibt, vertraut keinem Experten mehr, so Taleb in seinem Buch.  Talebs Hang zur Arroganz kann er auch in seinem neuen Werk nicht verleugnen (siehe hierzu RiskNET Kolumne September 2006 sowie Buchbesprechung "Narren des Zufalls"). "Medien sind der Gipfel der Irrelevanz", so Taleb. Aus seiner Sicht ermöglichen sie nicht, bessere Entscheidungen im Beruf oder Privatleben zu treffen. Daher liest er auch seit vielen Jahren keine Tageszeitungen mehr. Für Ökonomen hat er noch weniger Verständnis. Er nennt sie Geistesgestörte. Nassim Taleb verbringt seine Zeit lieber mit der Lektüre von Universalgelehrten und Denkern wie Montaigne, Spinoza, Hume, Rousseau, Paracelsus. Denker, die ganze Wissensgebiete nicht nur beackerten, sondern gleich selbst erschufen. Praktiker, so Nassim Taleb weiter. Die wirklichen epochalen Durchbrüche kommen nie aus den Universitäten.

Fazit: Talebs neues Buch ist unterhaltsam und uneingeschränkt empfehlenswert. Wer allerdings methodisch tiefer in das Thema einsteigen möchte, dem seien eher die Publikationen von Benoît B. Mandelbrot empfohlen (beispielsweise "Märkte zwischen Risiko und Ruin"). Mandelbrot kritisiert nicht nur, sondern zeigt auch gleichzeitig alternative Weg auf. "The Black Swan" hingegen ist unterhaltsam – aber zeigt nur wenige Alternativen, außer das Journalisten, Ökonomen und Banker Vollidioten sind.



Kommentare zu diesem Beitrag

Redaktion RiskNET /04.11.2008 09:03
Einige Pressestimmen:
“Ein brillant geschriebenes Buch über den Unsinn von Wirtschaftsprognosen. [...] Taleb schreibt launig und ohne jeden Respekt. Polemisch, aber mit viel Witz und Ironie attackiert er Bankmanager und Wissenschaftler, auch Nobelpreisträger bleiben nicht verschont. Und das liest sich auch in der deutschen Übersetzung höchst unterhaltsam.” manager magazin, Oktober 2008

“Es gibt nur wenige herausragende Wirtschaftspublizisten. Und es gibt noch weniger ausgezeichnete Wirtschaftsbücher. Deshalb ist es eigentlich unwahrscheinlich, ein ausgezeichnetes Wirtschaftsbuch von einem herausragenden Wirtschaftspublizisten zu finden. Taleb ist dieser schwarze Schwan.” brand eins, Oktober 2008
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