Schwankungen der Inflation

Das vermaledeite Ziel der Preisstabilität


Schwankungen der Inflation: Das vermaledeite Ziel der Preisstabilität Kolumne

Der entscheidende Fehler passierte im Mai 2003. Damals beschloss die Europäische Zentralbank nach heftigen internen Kontroversen eine neue Definition ihres Ziels der Preisstabilität. Künftig sollte es nicht mehr heißen "Zunahme der Preissteigerung von unter 2 Prozent". Stattdessen wurde das Wörtchen "nahe" eingefügt. Das Ziel heißt seitdem "nahe aber unter 2 Prozent".

Das sieht nach einer kleinen und unscheinbaren Änderung aus. Es macht aber einen erheblichen Unterschied. Bei einer Inflation von 1 Prozent beispielsweise, wie wir sie derzeit haben, wäre das Stabilitätsziel bei der ursprünglichen Definition nach wie vor erfüllt. Die Zentralbank müsste nichts unternehmen. Nach der neuen Definition ist die Preissteigerung zu niedrig. Die Zentralbank muss etwas tun, um die Rate nach oben zu bringen.

Schwankungen der Inflation: Preissteigerung, Euroraum [Quelle: EZB]

Schwankungen der Inflation: Preissteigerung, Euroraum [Quelle: EZB]

Ein Grund für die damalige Entscheidung, das Ziel enger zu fassen, waren in jener Zeit die sich verbreitenden Deflationsängste in der Welt. Das globale Wirtschaftswachstum brach ein. Die Geldentwertung verringerte sich. Die Aktienmärkte gingen nach dem Platzen der New Economy-Blase in die Knie. Es war verständlich, dass die Geldpolitiker in der noch jungen Zentralbank kalte Füße bekamen. Sie fürchteten, in eine Krise hineinzulaufen. Durch eine Änderung der Zieldefinition gaben sie sich eine Rechtfertigung, bei einer sinkenden Inflation schneller und stärker gegensteuern zu können.

Allerdings haben sie sich mit der neuen Zielformulierung erhebliche neue Probleme eingehandelt. Das war damals noch nicht so absehbar. Es ist umso gravierender, als die Probleme mit den Jahren immer größer geworden sind.

Erstens wird die Zentralbank zu einer viel lockereren Geldpolitik gezwungen, als sie sie sonst betreiben würde. Sie muss ihren Kurs bei allen Preissteigerungsraten zwischen 0 Prozent und 1,9 Prozent überdenken. Vorher war das nur bei sinkenden Preisen (= Deflation) und bei Preissteigerungsraten von über 2 Prozent (= überbordende Inflation) der Fall. Das fällt umso mehr ins Gewicht, als zu Beginn der Währungsunion niemand im Kopf hatte, dass sich die Geldentwertung so lange und anhaltend auf einem Niveau zwischen 1 Prozent und 2 Prozent bewegen würde. Alle Augen waren darauf gerichtet, dass es die Hauptaufgabe der Notenbank sei, eine zu hohe Geldentwertung zu verhindern.

Zweitens stößt das dadurch bewirkte Mehr an lockerer Geldpolitik vielfach auf Unverständnis und Kritik in der Öffentlichkeit. Null- und Negativzinsen sind zunehmend zu einem gesellschaftlichen Ärgernis geworden. Wer kann schon verstehen, dass der Präsident der EZB eine Preissteigerung von 1 Prozent für zu niedrig hält und sie nach oben treiben will, wo sich doch jeder eigentlich niedrigere Preissteigerungen wünscht? Jetzt nimmt sich sogar die Politik des Themas an und überlegt, ob man Negativzinsen nicht verbieten kann.

Drittens führt das immer häufigere Eingreifen der Notenbank, um die Preissteigerung nach oben zu bringen, zu erheblichen Abnutzungserscheinungen. Es gibt zunehmend Zweifel an der Wirksamkeit von Zinssenkungen oder den Käufen von Wertpapieren.

Viertens ist das Ziel "nahe aber unter 2 Prozent" zu ehrgeizig. Es wurde im Euroraum zuletzt vor sieben Jahren erreicht. Was aber nutzt ein Ziel, das immer verfehlt wird? Auch international gibt es viele Notenbanken, die sich ein Ziel von 2 Prozent als Obergrenze gesetzt haben. Ich kenne aber keine, die sich genau auf 1,9 Prozent festgelegt hat.

Fünftens braucht das Preisniveau bei Schwankungen der Konjunktur und vor allem der Energiepreise Bewegungsfreiheit (siehe Grafik). Es muss atmen können. Nicht jede Abweichung vom Ziel "nahe aber unter 2 Prozent" ist ein Ungleichgewicht, das die Zentralbank zum Eingreifen zwingen sollte. Das Ziel darf daher nicht zu eng gefasst werden.

All das spricht nicht gegen das Ziel der Preisstabilität. Im Gegenteil: Es wird als Vertrauensanker der Geldwirtschaft heute mehr gebraucht denn je. Es muss aber so definiert werden, dass es glaubwürdig ist und sich die Kollateralschäden der Geldpolitik in Grenzen halten.

Aus meiner Sicht wäre es daher vernünftig, das Präfix "nahe" in der Formulierung "nahe aber unter 2 Prozent" zu streichen. Das würde eine bescheidenere Zentralbank signalisieren. Es käme wieder Hoffnung auf, dass die Zinsen vielleicht doch nicht "auf ewig" so niedrig oder gar negativ sein müssten.

Es gibt allerdings auch Argumente, die dagegen sprechen. Zum einen würde eine bescheidenere Geldpolitik tendenziell zu höheren Zinsen führen. Das passt derzeit nicht in die gesamtwirtschaftliche Lage. Aber eine Zielveränderung ist nichts, was man von einem Tag zum anderen realisieren kann. Dazu braucht man Zeit. Sie könnte frühestens in zwei, drei Jahren kommen, wenn die gesamtwirtschaftliche Lage bestimmt wieder anders sein wird.

Zum anderen sollte man Ziele nicht in einer Zeit verändern, in der sie gerade nicht erreicht werden. Damit führt man sie ad absurdum. Aber zu warten, bis die Preissteigerung einmal wieder auf 1,9 Prozent steigt, wäre auch nicht vernünftig.

Das Nachdenken über eine neue Zieldefinition der Zentralbank hat nichts mit aktuellen Anlageentscheidungen zu tun. Es bleibt dabei, dass die Geldpolitik auf Lockerungskurs ist und auf absehbare Zeit bleiben wird. Das ist an den Märkten die wichtigste Gegenkraft gegen die negativen Einflüsse von Seiten der Handelspolitik, des Brexits und der sich verschlechternden Konjunktur.

Autor:

Dr. Martin W. Hüfner, Chief Economist, Assenagon Asset Management S.A.

Dr. Martin W. Hüfner, Chief Economist, Assenagon Asset Management S.A.

[ Bildquelle Titelbild: Adobe Stock | Bild Hüfner: Stefan Heigl / RiskNET GmbH ]
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