Der Ukraine Krieg

Sechs kurze Botschaften für die Verantwortlichen in Staat und Wirtschaft


Der Ukraine-Krieg: Sechs kurze Botschaften für die Verantwortlichen in Staat und Wirtschaft Kolumne

Bundeskanzler Scholz hat den Angriff Russlands auf die Ukraine als "Zeitenwende" bezeichnet. Wie schon aus der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2010 und der COVID-19-Pandemie ab 2020 ergeben sich auch aus der aktuellen Krise einige wichtige Botschaften. 

Einige Denkanstöße sind nachfolgend knapp zusammengefasst:

  1. Wie auch auf die letzten Krisen waren Staat und Unternehmen auf den Ukraine-Krieg und dessen negative wirtschaftliche Auswirkungen nicht vorbereitet. In der volkswirtschaftlichen Risikoforschung war die seit 2008, spätestens 2014, erkennbare Expansionspolitik Putins ein bekanntes geopolitisches Risiko, das insbesondere seit Herbst 2021 an Relevanz gewonnen hat (siehe hierzu beispielsweise den RiskNET-Artikel "Das geopolitische Sorgenjahr" aus 2014). Geopolitische Risiken, und insgesamt volkswirtschaftliche Risiken, die zu Wirtschaftskrisen führen können, werden bisher weder vom deutschen Staat noch von vielen Unternehmen systematisch analysiert. Die Analyse volkswirtschaftlicher Risiken, einschließlich die vier großen Felder der geopolitischen Risiken, gehören speziell zu den Pflichtaufgaben des Risikomanagements, das in der Lage sein soll, mögliche "bestandsgefährdende Entwicklungen" aus solchen Risiken frühzeitig zu erkennen (vgl. §1 StaRUG, Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetz).
     
  2. Der Ukraine-Krieg und seine wirtschaftlichen Auswirkungen sind ein weiteres Beispiel für die verbreitete "Risikoblindheit". Bekanntlich mögen sich die meisten Menschen nicht mit Risiken befassen und schätzen die Relevanz von Risiken systematisch falsch ein. Zudem sind sie nicht in der Lage Risiken adäquat in ihren Entscheidungen und Handlungen zu berücksichtigen (Gleißner 2020a, Romeike 2021a und Renn 2014). Die Risikowahrnehmung der Menschen, auch der Entscheidungsträger in Politik und Unternehmen, sind wesentlich geprägt durch die Risiken, die sich gerade zuletzt realisiert haben oder in den Medien besonders präsent sind (und dabei bildlich gut darstellbar). Dies erkennt man schnell, wenn man die Ergebnisse von "Expertenbefragungen" betrachtet, beispielsweise des Allianz-Risikobarometers oder der Experten beim World Economic Forum (vgl. zu einer Einordnung und zu einem Abgleich mit der "Risikolage der Welt" auch Gleißner 2020b). Bis 2019 war die Angst der Menschen vor Naturkatastrophen und den Risiken des Klimawandels besonders ausgeprägt – und dann kam ab 2020 die Angst vor den (bis dahin ignorierten) Risiken aus einer Pandemie. Risiken in Folge steigender Energie- und Rohstoffpreise, Versorgungsmängel sowie geopolitische Risiken und Kriege waren dagegen bis 2021 genauso wenig auf der "Agenda", wie das sich schon seit mehreren Jahren abzeichnende Risiko einer Inflations- und anschließenden Zinskrise – gerade hier ergeben sich drastische Gefahren (vgl. zu den entsprechenden Einordnungen Gleißner 2020c und 2021a).
     
  3. Ein adäquates staatliches Risikomanagement, das sich mit den von einzelnen Menschen oder Unternehmen kaum bewältigbaren Risiken befasst, die ganz Deutschland betreffen, existiert trotz der Erfahrung durch die COVID-19-Pandemie weiterhin nicht (vgl. Blum/Gleißner 2021 sowie Romeike 2021b). Die Politik war zumindest in den letzten Jahren von einer ausgeprägten Naivität geprägt, die gepaart mit Risikoblindheit verhindert hat, dass man sich mit bekannten Risiken beschäftigt. Es ist naiv zu glauben, dass eine Pandemie nicht eintreten kann und damit eine Vorbereitung unnötig wäre, nur weil die letzte einige Jahrzehnte zurückliegt. Es ist genauso naiv zu glauben, dass an ihren nationalen Interessen ausgerichtete autoritäre Staaten nicht bereit wären, wirtschaftliche und auch militärische Machtmittel einzusetzen. Es gab und gibt keine Weltfriedensordnung, in der alle Staaten entsprechend der "westlichen" Vorstellung von universellen Menschenrechten und einer friedlichen Kooperation konstruktiv zusammenarbeiten würden (vgl. dazu auch RiskNET 2022). Diese Naivität dürfte sich bei vielen Menschen nun durch jüngste Erfahrungen "reduziert" haben (was auch eine Chance bietet, den Umgang mit China und den hier bestehenden gravierenden kritischen Abhängigkeiten kritisch zu hinterfragen). 
     
  4. Bisher werden die Implikationen der jüngsten Erfahrungen für die Klima- und Energiepolitik offenbar noch wenig beachtet. Auch hier ist es bei aller Besorgnis über mögliche negative Auswirkungen weiter steigender Temperaturen infolge der CO2-Emission naiv, die Politik eines Staates (wie Deutschland) ohne Beachtung der Realität auf das auszurichten, was man für eine "wünschenswerte Entwicklung" hält (auf dem Weg zu einer "Net-Zero-Emissionswelt"). Auch die deutsche Politik sollte beachten, wie sich nationale Interessen anderer auswirken und – ungeachtet weitgehend unverbindlicher Zusagen – hinterfragen, ob eine die Erwärmung abschwächende CO2-Emissionsminderung anderer Länder plausibel erscheint. Soll man also wirklich annehmen, dass nach den jüngsten Erfahrungen die russische Regierung auf die Nutzung und den Verkauf von Gas, Öl und Kohle verzichten wird (obwohl die gesamte Wirtschaft, der gesamte Wohlstand und letztlich die Macht Russlands davon abhängt)? Oder erwartet man dieses von den ölexportierenden Ländern im arabischen Raum? Realitäten zu ignorieren und damit beispielsweise Anpassungsmaßnahmen für weiter steigende Temperaturen zu vernachlässigen, ist nicht sinnvoll, sondern naiv. Das reale Handeln sollte sich mehr an real zu erwartenden Entwicklungen (in risikobedingt möglichen Bandbreiten) orientieren als an Wunschszenarien. Und glücklicherweise droht auch bei einer Erwärmung der Erde um weitere drei Grad bei Betrachtung der tatsächlichen Fakten und ungeachtet möglicher Herausforderungen durch die Anpassung an die Erwärmung zumindest kein "Untergang der Menschheit" (vgl. dazu die Zahlen der Projektionen des IPCC-Berichts 2022 und die Einordnung solcher Zahlen zu den Risiken bei Lomborg 2020 und 2022).
     
  5. Der aktuelle "Stresstest" durch den Ukraine-Krieg, die Nachwirkungen der COVID-19-Pandemie (wie Lieferkettenprobleme) sowie die steigenden Energie- und Rohstoff-Preise ermöglichen auch eine kritische Beurteilung des Risikomanagements von Unternehmen. Diese Beurteilung ist meist nicht sehr positiv. Man stellt fest, dass sich viele Geschäftsleitungen nun seit 2020 ganz intensiv mit den Auswirkungen von Risiken beschäftigen – von Pandemie bis zu Problemen der Gasversorgung – ohne dass diese Risiken vor 2020 jemals im Bereich strategischer Planung oder des Risikomanagements betrachtet wurden. Statt eines präventiven Umgangs mit Risiken erleben wir oft ein mehr oder weniger ausgeprägtes "Durchwursteln" bei der Bewältigung der negativen Auswirkungen. Die Potenziale eines präventiven Risikomanagements, das sich mit der rechtzeitigen Identifikation, Quantifizierung und Aggregation, Überwachung und eben Bewältigung von Risiken befasst, werden bisher nicht genutzt (vgl. Gleißner 2022).

    Leicht erkennbar ist bei den meisten Unternehmen auch, dass nicht einmal die im Jahr 2021 präzisierten und erweiterten gesetzlichen Mindestanforderungen an das Risikomanagement umgesetzt sind (§ 1 StaRUG, vgl. Gleißner/Romeike 2022 und Gleißner/Wolfrum 2022). Sowohl bei mittelständischen Unternehmen als auch bei börsennotierten Unternehmen stellt man regelmäßig fest, dass diese Anforderungen nicht einmal zur Kenntnis genommen werden (möglicherweise, weil sie eben zwar verpflichtend, aber nicht Gegenstand der Abschlussprüfung sind; vgl. dazu Schmidt/Henschel 2021 sowie Berger et al. 2021a und 2021b). Noch immer sind viele Kapitalgesellschaften entgegen den gesetzlichen Anforderungen nicht in der Lage, die Wahrscheinlichkeit einer "bestandsgefährdenden Entwicklung", also einer schweren Krise, zu beurteilen, weil die dafür notwendigen Methoden für Risikoanalyse und simulationsbasierte Risikoaggregation (Monte-Carlo-Simulation) fehlen (obwohl die entsprechenden Tools mittlerweile sogar kostenlos und einfach erhältlich sind (beispielsweise der "Risiko-Simulator").

    Hier ist nur zu hoffen, dass die permanente Erinnerung an die Bedeutung von Risiken, die zu negativen Planabweichungen und Verlusten führen können, nun zu einer größeren Sensibilisierung führt. Die Erfahrung der Vergangenheit lässt hier aber nur einen begrenzten Optimismus zu: Die Unternehmensleitungen sind so mit "akuten" Themen befasst, dass man eben die strategisch relevante Verbesserung der Fähigkeit im Umgang mit Risiken – Risikomanagement oder Controlling – wieder einmal aufschiebt. Die mittlerweile durch § 1 StaRUG deutlich erhöhten persönlichen Haftungsrisiken der Geschäftsleitung sind hier möglicherweise bei vielen Unternehmen der einzige Anlass, sich mit diesem wichtigen Thema zu befassen (vgl. Nickert/Nickert 2021 und das Thema Risikoblindheit oben). 
     
  6. Weder der deutsche Staat noch ein erheblicher Teil der Unternehmen sind ausreichend "robust" (vgl. Gleißner 2017, 2020d und 2021b). Ein Grundproblem besteht darin, dass Strategien für den Weg in die Zukunft ohne adäquate Berücksichtigung von Unsicherheit bedingt durch Risiken entwickelt werden. Betrachtet wird primär das gewünschte Zukunftsszenario. Selbst simple Grundprinzipien des Risikomanagements werden ignoriert: Robustheit erfordert die systematische Analyse und möglichst Vermeidung "kritischer Abhängigkeiten". Deutschland hat auch infolge der Energiewende die Abhängigkeit von russischem Gas erhöht (Gleißner/Follert 2022). Und auch bei vielen Unternehmen fällt erst durch Lieferkettenprobleme, eine Nachwirkung der COVID-19-Pandemie, und jetzt der Ukraine-Krise auf, dass viele Single-Sourcing-Entscheidungen der Vergangenheit ohne Beachtung der damit verbundenen Risiken getroffen wurden (vgl. dazu Gleißner/Romeike 2020 sowie Huth/Romeike 2016).

    Sinnvoll ist eine systematische Quantifizierung von Risiken und die Bewertung der Robustheit eines Unternehmens (genau wie auch eines Staates). Ziel sollte ein "robustes Unternehmen" bzw. ein "robuster Staat" sein, um die Zukunftsfähigkeit und Überlebensfähigkeit und damit die Krisenstabilität zu verbessern (vgl. zur Messung und Verbesserung der Zukunftsfähigkeit von Unternehmen den auf wissenschaftlicher Basis entwickelten Q-Score-Ansatz, Gleißner/Weissman 2021).

Fazit

Die Lessons Learned aus der aktuellen Krise ähneln denen, die wir auch schon bei der COVID-19-Pandemie hatten (vgl. Gleißner 2021a). Wir bekommen regelmäßig die Bedeutung von Risiken vor Augen geführt und stellen fest, dass die Verantwortlichen in Staat und Unternehmen das Thema "Risiko" zu wenig ernst nehmen. Solange ein strategisch ausgerichtetes Risikomanagement in einem Unternehmen nicht den gleichen Stellenwert hat wie Rechnungslegung oder Compliance, werden die hier vorhandenen Potenziale nicht erschlossen (vgl. DIIR- und RMA-Arbeitskreis 2022 und Gleißner/Ulrich 2022). Ein strategisch verstandenes Risikomanagement ist von grundlegender Bedeutung für die Zukunfts- und Überlebensfähigkeit eines Unternehmens in einer Welt, deren Entwicklung auch zukünftig durch bestehende Chancen und Gefahren (Risiken) geprägt sein wird. Jede unternehmerische Tätigkeit ist mit Risiko verbunden. Und entsprechend sollten Risikomanagementmethoden bei allen unternehmerischen Aktivitäten präsent sein (vgl. zu Gedanken eines "Embedded Risikomanagements" Gleißner 2022).

Für Interessenten steht eine Analyse des Ukraine-Kriegs und des möglichen weiteren Verlaufs der sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Krisen zur Verfügung!

Autor:

Prof. Dr. Werner Gleißner

FutureValue Group AG (Vorstand)
TU Dresden (BWL, insb. Risikomanagement)


Literaturverzeichnis

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