Globale Herausforderung für eine nachhaltige Zukunft

Die Kunst des Risikomanagements


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Auf dem international beachteten G-20 Treffen in Pittsburgh sollte eine neue Weltfinanzordnung abgestimmt werden. Nachdem die globalen Wirtschaftssysteme die weltweite Finanzkrise nicht verhindern konnten, ja diese durch Dilettantismus und ungezügelte Profitgier ausgelöst haben, fühlen sich nun die politischen Systeme zu einer Neuordnung berufen. Ein supranational verordnetes Risikomanagement soll Weltwirtschaftskrisen in Zukunft vermeiden – dreht sich hier womöglich der Berg und gebiert eine Maus?

Per se müssen unternehmerische Entscheidungen stets in ein Risikomanagementsystem eingebettet werden. Indem wir uns eben nicht in einer deterministischen, eindeutig prognostizierbaren Welt bewegen, stehen unsere Entscheidungen immer unter dem Menetekel der Unsicherheit. Unternehmerisches Handeln versucht diese Unsicherheit durch die ihre bewusste Akzeptanz ("Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!") im Sinne eines Wettbewerbsvorteils zu nutzen. Der Risikomanagementprozess erscheint in seinem Ablauf trivial und jedem Entscheider selbsterklärend. Nach der Identifikation eines Risikos wird die mögliche Zielabweichung quantifiziert, aufgrund seines erkannten Bedrohungspotenzials wird das Risiko sodann vermieden, vermindert, überwälzt oder akzeptiert. Schlussendlich unterzieht man den getroffenen Prozess in zeitlichen Abständen einer Kontrollschleife, um die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen zu verifizieren. Wie gut dieser Risikomanagementprozess gelingt, konnte man anlässlich der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise bestaunen. Die Überhitzung des US-Hypothekenmarktes (innerhalb von 20 Monaten verloren die US-Immobilien 7,1 Billionen US-Dollar an Wert) wurde spät erkannt, die ausgegebenen Immobilienkredite zeigten sich bar jeglicher Risikosicht (NINJA-Kredite – no income, no job and assets) und waren heillos überbewertet (cash back Kredite), womit die strukturierten Kreditbündel, deren Zusammensetzung eine Risikoidentifikation ad absurdum führten, die letzte Hilfe im theoretischen Konstrukt der Diversifikation („es wird schon nicht alle gleichzeitig treffen“) suchten – ein Kardinalfehler, indem das Kreditnetzwerk als Ganzes zusammenbrach.

Die Konsequenzen dieses fatal fehlgeschlagenen Lackmustests des Risikomanagements zeigen sich nun in Milliarden schweren Rettungsaktionen aller Industriestaaten (allein die USA setzen 4,7 Billionen US-Dollar zur Systemstützung ein) mit der Konsequenz, dass der Internationale Währungsfonds für die G20-Staaten einen Verschuldungsgrad von 140 Prozent der Wertschöpfung (zur Erinnerung: der Maastricht-Vertrag der EU erlaubt eine maximale Verschuldung von 60 Prozent) erwartet. Würde man die monetären Rettungsaktionen der einzelnen Länder visuell darstellen, indem man 500 Euro-Scheine übereinander legen würde, so umfassten die hierdurch entstehenden "Geldscheinrettungstürme" in den USA die Höhe von 409 km, in Großbritannien 126 km, in Deutschland 106 km und in Frankreich 76 km. 

Nachdem der deregulierte Finanzmarkt in seiner Gier nur noch Chancen aber keine Wagnisse mehr gesehen hat, reagierte der Gesetzgeber mit einer drastischen Reregulierungstendenz. Ein Financial Stability Board (bestehend aus Vertretern der G20-Notenbanken, der Aufsichtsbehörden und Finanzministerien sowie weiterer internationaler Institutionen) bestimmt nun wie ein „deus ex machina“ die Geschehnisse der Finanzmärkte. Erhöhte Regulierungsbemühungen (Schaffung eines europäischen Rates für Systemrisiken sowie eines europäischen Finanzaufsichtssystems) versuchen nun die Schuldigen der Finanzkrise (Ratingagenturen, Schattenbanken, etc.) in ihren Geschäftsmodellen einzugrenzen. In Deutschland hat am 2. Juli 2009 der Deutsche Bundestag das „Gesetz zur Stärkung der Finanzmarktaufsicht und Versicherungsaufsicht“ erlassen. Im Einklang mit den geplanten Reregulierungsmaßnahmen auf Basis der G20-Beschlüsse (Kritiker sprachen bei der deutschen Gesetzesinitiative von "vorauseilendem Gehorsam") greift dieses neue Gesetz speziell für die Finanzdienstleistungswirtschaft (Banken, Versicherungen, Pensionskassen) in bestehende Gesetze ein und nimmt somit Einfluss auf fundamentale Belange der Geschäftsmodelle.

Risikomanagement wird somit qua Gesetzgeber der Finanzdienstleistungswelt aufoktroyiert, als ob diese ihre Identifikations- und Steuerungsschwächen nicht selbst hat bitter erkennen müssen. Kann dieser Weg der verpflichtenden Regulierung ein erfolgreiches Risikomanagement per se garantieren?

Aus der Finanzkrise lernen heißt letztendlich die Schwächen des Risikomanagements analysieren. Ein Vertrauen auf gesetzgeberische Maßnahmen reicht für ein erfolgreiches Risikomanagement bei weitem nicht aus, vielmehr gilt es folgende Erkenntnisse als "lessons learned" zu beherzigen:

  • Blindes Vertrauen in mathematische Modelle bedeutet den Nebel der Vergangenheit in die Zukunft fortzuschreiben. In einer Welt der Strukturbrüche sind Zeitstabilitätshypothesen zu verwerfen, Experten müssen mit ihrem berechtigten "Bauchgefühl" Strukturbrüche und Schockszenarien prognostizieren, irrationales und psychologisch motiviertes Verhalten (etwa Herdentriebe) muss in Zukunftsszenarien berücksichtigt werden.
  • Das Vertrauen auf das ausgleichende Element der Diversifikation ("gleichzeitig wird nur ein Bruchteil der Risiken schlagend") bedeutet eine künstliche Verdünnung des Zukunftsnebels. Die Unterstellung stochastisch unabhängiger Ereignisse ist in einer vernetzten Welt nicht mehr haltbar.
  • Die Idee des rein analytisch agierenden "homo oeconomicus" ist zwar betriebswirtschaftlich wünschenswert – in realiter nicht umsetzbar. Verhaltenswissenschaftliche Aspekte (Wahrnehmungs-, Einstellungs-, Kommunikationsparameter) müssen in unternehmerischen Entscheidungen Berücksichtigung finden.
    Neben den sicherlich notwendigen gesetzgeberischen "Leitplanken" muss sich jeder Entscheider vor den Spiegel seines betriebswirtschaftlichen Risikomanagements stellen. Dabei muss er für sich selbst die Frage beantworten: Wie kann mein Risikomanagement in einer ungewissen Zukunft gelingen?


Vor dem Hintergrund der Finanzkrise sollte die Antwort folgende Aspekte berücksichtigen:

  • Je größer ein Unternehmen, desto größer sein Kumulrisiko und desto größer sein systemisches Risiko. Systemische Risiken müssen aber in einer vernetzten, globalisierten Welt stärker berücksichtigt werden, womit Eigenkapitalpuffer erhöht werden müssen! Risiken des Unternehmenswachstums dürfen nicht "hinwegdiversifiziert" werden, sondern müssen mit überproportional höherem Eigenkapital unterlegt werden.
  • Mathematische Modelle müssen mit Expertenskepsis und Erfahrungswerten angereichert werden. Erfahrung und "Bauchgefühl" dürfen nicht nur, sondern müssen mathematischen Modellen zur Seite gestellt werden.
  • Strukturbrüche müssen über Szenarioanalysen angedacht werden (think the unthinkable). Hierzu ist es notwendig, branchenfremde, externe Meinungen in die Zukunftsprognose einfließen zu lassen. So arbeiten Rückversicherungsunternehmen in ihren Think Tanks mit Soziologen, Psychologen, Naturwissenschaftlern, Betriebswirten und weiteren Fakultäten zusammen.
  • Verhaltenswissenschaftliche Erkenntnisse müssen in Entscheidungsprozesse und somit in Risikoprognosen integriert werden. Die nobelpreisgekürte prospect theory muss in die Prognose des Entscheidungsverhaltens einbezogen werden. Heuristiken und Herdentriebe, medial ausgelöstes Nonsensverhalten und irrational anmutende Entscheidungsgründe (basierend auf Einstellungen, Erfahrungen, Erziehungsparametern) müssen Bestandteile einer Szenariotechnik zur Abschätzung der Zukunft werden.
  • Das Wappentier des Risikomanagements der Zukunft ist der berühmte "schwarze Schwan", den niemand erwartet, der aber jederzeit erscheinen kann. Szenarien müssen alle denkbaren Varianten einer Wirtschaftsentwicklung berücksichtigen – die Kunst des Risikomanagements wird in einer Welt zunehmender Spannweite von worst zu best case nicht einfacher werden!


Prof. Dr. Matthias Müller-ReichartAutor:

Prof. Dr. Matthias Müller-Reichart ist Inhaber des Lehrstuhls für Risikomanagement der RheinMain Hochschule in Wiesbaden, steht als Unternehmensberater in Diensten europäischer Versicherungsgesellschaften und engagiert sich als Einzelhändler eines Online-Juweliers in Würzburg. Zahlreiche Publikationen, Fachvorträge und Kongressleitungen weisen ihn als deutschen Versicherungsexperten auf EU-Ebene aus. 

[Bildquelle oben: iStockPhoto]

 

Kommentare zu diesem Beitrag

Martin /12.10.2009 18:40
War das Problem wirklich die blinde Anwendung von quantitativen Modellen? Ich bezweifel das. Kann "Bauchgefühl" tatsächlich Strukturbrüche und Schockszenarien prognostizieren? Auch das wage ich zu bezweifeln. Auch das Bauchgefühl wird im Wesentlichen von den historischen Erfahrungen gefüttert. Und alles was ich dort nich erfahren habe, blende ich aus! Um Strukturbrüche zu erkennen, muss ich - meiner Meinung nach - vor allem mit szenariobasierten Ansätzen arbeiten, die einen interdisziplinären Diskussionsprozess durchlaufen. Das ist meine Erfahrung aus der Praxis als Risk Manager eines Technologiekonzerns, der regelmäßig mit Strukturbrüchen zu tun hat ...
swiss-banker /12.10.2009 22:40
die ursachenanalyse ist mir zu populistisch (stichwort ungezuegelte profitgier). leider werden immer wieder die eigentlichen makrooekonomischen ursachen - die vor allem von der politik zu verantworten sind - bei der analyse ausgeblendet. die meisten analysieren konzentrieren sich leider nur auf die mikrooekonomie und blenden damit wesentliche ursachen aus. schade
Rubi /13.10.2009 08:47
Stimmt die Aussage "Je größer ein Unternehmen, desto größer sein Kumulrisiko" wirklich? Die HRE war/ist nicht besonders gross, aber definitiv ein großes Systemrisiko! Was ist mit Größe gemeint? Die Bilanzsumme? Ist nicht viel eher die Vernetztheit ein Kriterium für systemische Risiken. Auch ein kleiner Player, der ein wichtiges Zahnrrad für das Funktionieren der Wirtschaft (etwa ein kleiner Provider, der aber wichtige Knoten im Internet verantwortet) verantwortet, kann systemrelevant sein. Ansonsten stimme ich den Handlungsempfehlungen anschliessen.
Goofy /15.10.2009 10:39
Kompakte Analyse ... sinnvolle Lessons learned. Gruß, Jo
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