FIRM Offsite und Forschungskonferenz 2014

Wege zur besseren Risiko-Intelligenz


Wege zur besseren Risiko-Intelligenz [Bildquelle: © Marco2811 - Fotolia.com] Photo Gallery

Am 5. und 6. Juni trafen sich Wissenschaftler und Praktiker zur FIRM-Forschungskonferenz sowie zum FIRM-Offsite 2014 in der Gutenberg-Stadt Mainz. Mit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern setzte Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg (geboren um 1400 in Mainz), das Fundament der modernen Medienkommunikation. So wählten US-amerikanische Journalisten in ihrem Buch "1000 Years - 1000 People" mit dem Prädikat "Man of the Millennium" Gutenberg zur wichtigsten Persönlichkeit des 2. Jahrtausends. Passend zum großen Sohn der Stadt Mainz stand auch bei der diesjährigen Forschungskonferenz die Kommunikation im Zentrum. So wurden aktuelle Forschungsprojekte, etwa zu den Themen systemische Risiken, neurowissenschaftliche Erkenntnisse im Kontext Risikowahrnehmung sowie Risikoberichterstattung bei Nichtfinanzdienstleistern, präsentiert und diskutiert.

Die Heterogenität der Vorträge und Diskussionsbeiträge spiegelte einmal mehr die Vielfalt und Interdisziplinarität der Themen im Bereich Risikomanagement und Regulierung wider. In diesem Kontext wurde deutlich, dass das Offsite 2014 sowie die Forschungskonferenz vor allem auch Brücken bauen zwischen unterschiedlichen Disziplinen (etwa Neurowissenschaften, Mathematik und Ökonomie sowie Psychologie) sowie zwischen Wissenschaft und Praxis.

Der weite Ozean des Unbekannten

Die Diskussionen zwischen Wissenschaftlern und Praktikern schafften vor allem auch Transparenz über die "blinden Flecken" im Bereich des Risikomanagements und der Regulierung. So erinnert man sich an eine Aussage des englischen Physikers, Mathematikers und Astronomen Sir Isaac Newton: "In der Wissenschaft gleichen wir alle nur den Kindern, die am Rande des Wissens hie und da einen Kiesel aufheben, während sich der weite Ozean des Unbekannten vor unseren Augen erstreckt." So hat sich FIRM vor allem zum Ziel gesetzt, auch zukünftig Forschung und Lehre auf allen Gebieten des Risikomanagements und der Regulierung sowie der ganzheitlichen und praxisorientierten Ausbildung zu  fördern. Damit die Wissenschaft zukünftig "mehr Kiesel aufheben" kann.

Die unsichtbare Hand, die vor dem Tausch Preise vorschlägt

Juan Ignacio Aldasoro, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, präsentierte in seinem Vortrag ein endogenes Netzwerkmodell für den Interbankenmarkt, in dem risikoaverse Banken sich gegenseitig Kredite vergeben und in liquide als auch illiquide Aktiva investieren. Banken können auf dem Interbankenmarkt als Kreditnehmer und Kreditgeber auftreten. Das Clearing des Interbankenmarkts und des Markts illiquider Aktiva erfolgt durch den Tâtonnement-Prozess.

Der Tâtonnement-Prozess beschreibt die Interpretation des Marktmechanismus als Auktionsverfahren nach dem französischen Neoklassiker Léon Walras. Hierbei wird gedanklich unterstellt, es gäbe einen Auktionator (eine unsichtbare Hand), der noch vor dem Tausch Preise für Güter und Faktoren vorschlägt. Dem Auktionator werden die von den Haushalten und Unternehmungen dazu angebotenen und nachgefragten Mengen zunächst mitgeteilt. Stimmen Angebot und Nachfrage zu diesen Preisen nicht überein, erhöht er bei einer Überschussnachfrage den Preis bzw. senkt er diesen bei einem Überschussangebot. Durch eine Preiskorrektur tastet sich der Auktionator so an die markträumenden Gleichgewichtspreise heran. Erst wenn dieses Tâtonnement zum allgemeinen Gleichgewicht auf allen Märkten geführt hat, dürfen die Kontrakte geschlossen werden.

Um die gehandelten Mengen zuzuordnen, wurden in der wissenschaftlichen Analyse drei alternative Algorithmen unterstellt: Maximum Entropy, Closest Matching und Random Matching. Es wurden die Netzwerkstrukturen anhand verschiedener Maße zur Messung von Netzwerkzentralitäten analysiert, unter anderem Input-Output-Effekte sowie das systemische Risiko (Shapley Value). Das von dem Modell generierte Interbankennetztwerk repliziert verschiedene Eigenschaften empirischer Interbankennetzwerke. Das vorgestellte Modell wurde vor allem zur Analyse der Auswirkungen zweier bankenaufsichtlicher Vorschriften (Liquiditäts- und Eigenkapitalanforderungen) auf die Stabilität und Effizienz  des Bankensystems entwickelt. Die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass Liquiditätsanforderungen die Stabilität erhöhen, aber die Effizienz reduzieren, während Eigenkapitalanforderungen zwar ebenfalls die Stabilität steigern, allerdings nicht einhergehen mit sinkenden Investitionen.

Risiko-Intelligenz: Einsichten aus der Praxis

Prof. Dr. Bernd Weber, Heisenberg-Professur am Center for Economics and Neuroscience der Universität Bonn, und der Psychologe Axel Esser lieferten in ihren Vorträgen Einsichten aus der Hirnforschung und potenzielle Wege zu einer besseren Risikointelligenz bei Entscheidungen. Unter Risikointelligenz wird die Fähigkeit definiert, die Informationen zu Risiken adäquat interpretieren zu können und so in der Konsequenz zu guten oder besseren Entscheidungen zu gelangen. Adäquat interpretieren heißt dabei, zu akzeptieren, dass Risikowahrnehmung kein rein rationaler Prozess ist, sondern eine Kombination aus Fakten und der Frage, wie sich diese Fakten "anfühlen". Wie sich Fakten anfühlen, ist von unseren Emotionen beeinflusst, die mit diversen Einflussfaktoren in Wechselwirkung stehen, wie beispielsweise einer kognitiven Verarbeitung, die biologischen Beschränkungen unterworfen ist, sowie dem sogenannten Framing, als Rahmen, in dem Fakten dargestellt werden und uns unterschiedlich gewichtet erscheinen. Das Priming wiederum ist  eine unbewusste Vorbahnung, die Verhalten und Entscheidungen beeinflusst.

Insgesamt legten Weber und Esser dar, dass Intuitionen und Heuristiken – als ein schneller Prozess von Mustererkennungen – auf Erfahrungen basieren.
Besonders starke Ausprägung der Emotionen beherrschen die Anteile in unserem Gehirn, die für das rationale und kritische Entscheiden zuständig sind (präfontaler Cortex), und führen je nachdem, ob das "Erwartungsareal" (Nucleus accumbens) oder das "Furcht oder Ekelareal" (anteriore Insula) angeregt sind, zu einer hohen Risikovorliebe oder Risikoaversion.

Risikointelligenz zu trainieren heißt, dabei zu lernen, mit den eigenen Emotionen umzugehen und seinen Zustand zu kennen, in dem Entscheidungen unter Risiko getroffen werden. Nach Ansicht der Neuroexperten kann dies mit Hilfe der folgenden drei Methoden erlernt werden:

  • Neurocoaching ist eine Form von Coaching, die auf dem Wissen über das Gehirn aufsetzt. Damit erhält der Entscheider einen "Widerstands-freieren" Zugang zu seinen Themen. Lösungen können in einem neuen Rahmen erarbeitet werden.
  • Neurofeedback ist eine Technik zur Verbesserung der Selbstregulierungsfähigkeit des Gehirns. Beim Training werden die Zustände der neuronalen Verarbeitung im Gehirn grafisch dargestellt und über positive Verstärkung und Animationen auf gewünschte Zustände trainiert, damit diese in Situationen abgerufen werden können.
  • Mindfulness ist eine meditationsbasierte Technik, bei der bewertungsfreie Aufmerksamkeit trainiert wird, um zum Beispiel gegen negative Emotionen toleranter zu sein, letztlich gegen Emotionen, die "überwältigen" – positiv wie negativ. Damit steht die Leistung des präfontalen Cortex, als für rationale Entscheidungen zuständig, besser zur Verfügung. Mindfulness-Training reduziert Stress und steigert die kognitiven Fähigkeiten, fokussiert die Aufmerksamkeit und verbessert die Informationsverarbeitung.

Das Fazit von Weber und Esser: Risikointelligenz heißt sich beeinflussender Faktoren bewusst zu sein und den Zustand zu kennen, in dem Entscheidungen getroffen werden und diesen durch geeignetes Training und organisatorische Maßnahmen positiv zu beeinflussen.

Wachstumseffekte einer finanziellen Integration im europäischen Bankensektor

Christian Seckinger, Johannes Gutenberg-Universität Mainz stellte in seinem Vortrag die Studienergebnisse zu den Wachstumseffekten einer finanziellen Integration im europäischen Bankensektor vor und während der europäischen Finanz- und Staatsschuldenkrise vor. Während der europäische Bankensektor vor der Finanzkrise einen anhaltenden Integrationsprozess in Form eines zunehmenden grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs erfahren hat, findet seit Beginn der Finanzkrise ein anhaltender Desintegrationsprozess statt, im Zuge dessen europäische Banken substantiell Kapital von ausländischen Filialen und Tochterbanken in ihre jeweiligen Heimatländer zurückführen, so der Wissenschaftler in seinen Ausführungen.

So haben die Wissenschaftler in ihrer Analyse das Produktionswachstum von Industrien mit unterschiedlicher Abhängigkeit von externer Finanzierung in Ländern mit unterschiedlicher finanzieller Integration verglichen und konnten Wachstumseffekte finanzieller Integration identifizieren. Die Ergebnisse der Arbeit legen nahe, dass zusätzliches ausländisches Kapital während der Krisenperiode bis zu viermal stärkere Wachstumseffekte generiert hat als vor der Finanzkrise. Dies deutet darauf hin, dass der Industriesektor während der Finanzkrise auf deutlich erschwerte Finanzierungsbedingungen bei heimischen Banken traf.

Darüber hinaus zeigen die Resultate der Mainzer Wissenschaftler, dass insbesondere Länder mit Leistungsbilanzdefizit vor der Krise von einer Internationalisierung des heimischen Bankensektors profitieren konnten, dass während der Krise jedoch zusätzliches ausländisches Kapital auch in Überschussländern signifikante positive Wachstumseffekte erzeugt hat.
Schließlich scheint finanzielle Integration insbesondere in Desintegrationsphasen von besonderer Bedeutung für wirtschaftliches Wachstum zu sein. Insgesamt legen die Ergebnisse der Forschungsarbeit nahe, dass ein neuerlicher Reintegrationsprozess im europäischen Bankensektor eine wichtige Rolle für zukünftige europäische Wachstumsperspektiven spielen kann.

Deutliche Unterschiede in der Risikoberichterstattung

Prof. Dr. Axel Adam-Müller, Universität Trier, präsentierte die Ergebnisse einer Studie zum "Reporting Incentives and Enforcement: Impact of Corporate Disclosure", die er gemeinsam mit Michael Erkens, HEC Paris, durchgeführt hat.

Die Wissenschaftler analysierten 385 Unternehmen (ohne Berücksichtigung von Unternehmen aus dem Bereich Finanzdienstleistungen) aus 20 europäischen Ländern, in denen börsennotierte Unternehmen gemäß International Accounting Standard 7 (IAS 7) über ihre Risiken berichten müssen. Obwohl die Unternehmen derselben Rechnungslegungsvorschrift unterliegen, zeigen sich sehr deutliche Unterschiede im Umfang des tatsächlichen Berichtsverhaltens.

Axel Adam-Müller wies in seinem Vortrag darauf hin, dass die Erfüllung der Rechnungslegungsvorschriften im Kontext der Risikoberichterstattung mit einem ungewichteten "disclosure index" ermittelt wurde. Im Durchschnitt berichten Unternehmen lediglich über 66 Prozent derjenigen Punkte, über die sie berichten müssten. Einzelne Unternehmen liegen weit unterhalb dieses arithmetischen Mittels und berichten deutlich weniger. Besonders ausgeprägt ist die Zurückhaltung in der Berichterstattung, wenn es um den Umfang von Kreditrisiken, den Einfluss von Finanzinstrumenten auf die Gewinn- und Verlustrechnung und um die Beschreibung der Risikosteuerungspolitik geht.

Insgesamt bleiben die Unternehmen in der Stichprobe deutlich hinter dem zurück, was IAS 7 vorschreibt. Daher liefert die Analyse einen deutlichen Hinweis darauf, dass die reine Vereinheitlichung von Rechnungslegungsvorschriften in Europa nicht ausreicht, um eine umfassende und einheitliche Berichterstattung zu gewährleisten.

In weiteren Analyseschritten konnte gezeigt werden, dass und in welcher Weise externer Informationsbedarf und Anreize des Managements (beispielsweise zukünftige Finanzierungsmaßnahmen) den Umfang der Risikoberichterstattung beeinflussen. Einen hohen Erklärungsbeitrag liefern zudem länderspezifische Faktoren wie der Umfang der Durchsetzung von gesetzlichen Anforderungen sowie spezifische kulturelle Aspekte. Somit deuten die Studienergebnisse darauf hin, dass Regulatoren diese länderspezifischen Unterschiede berücksichtigen sollten, wenn eine einheitliche Berichterstattung angestrebt wird.

Interdisziplinarität im Risikomanagement

Die Forschungskonferenz und das Offsite 2014 spiegelten einmal mehr die Vielfalt und Breite und Interdisziplarität des Themas Risikomanagement wider. So präsentierte Magdalena Ignatowski, Johann Wolfgang Goethe-Universität, die Ergebnisse ihrer Studien zum Thema "Wishful Thinking or Effective Threat? Tightening Bank Resolution Regimes and Bank Risk-Taking". Die Ergebnisse der Untersuchung sind eindeutig: Die Banken verändern ihr Risikoverhalten in der Folge der Einführung eines Resolution Regime und werden somit insgesamt stabiler. Dieser Wirkungsmechanismus gilt jedoch nicht für die großen, systemrelevanten Banken. Diese vertrauen im Krisenfall wohl weiterhin darauf, von der öffentlichen Hand bzw. dem Steuerzahler gestützt zu werden. Die G-20-Länder hatten sich nach der Finanzkrise zum Ziel gesetzt, dass Staaten in Zukunft keine Großbanken mehr retten müssen, um die Stabilität des Finanzsystems zu sichern. Um dieses Problem ("Too big to fail") zu lösen, haben die USA und Europa umfassende Reformen im Bereich der Regulierung auf den Weg gebracht. Doch die aktuelle Studie zeigt recht deutlich, dass es wohl eher bei "Wishful Thinking" bleiben wird: Einen Beitrag zur Begrenzung des "Moral Hazard" liefert ein Resolution Regime nicht.

Enya He, Ph.D., University of North Texas, präsentierte in ihrem Vortrag die Herausforderungen bei der Gewinnung qualifizierter und talentierter Mitarbeiter für die Finanzdienstleistungsbranche.

Am zweiten Tag des Offsite wurden vor allem Vorschläge zu inhaltlichen Gestaltung des FIRM Risk Roundtable, zum Dialogforum, zum Forschungspreis, Ideen zur Weiterentwicklung der Website und des Jahrbuchs sowie die Lehrangebote im Kontext Risikomanagement und Risk Governance diskutiert. So wird es zukünftig der Executive Master in "Risk Management & Regulation" (MRR) auch als ein Part-Time-Masterprogramm angeboten. Und mit dem "Master of Finance" wird ein Full-Time-Masterprogramm mit dem Schwerpunkt Risikomanagement angeboten.

Fazit: Gemäß "Misson Statement" der Gesellschaft für Risikomanagement und Regulierung hat das FIRM Offsite 2014 einmal mehr das Verständnis von Best-Practice-Standards im Bereich Risikomanagement und Regulierung unterstützt, mit dem klaren Ziel eines nachhaltigen und die Gesamtwirtschaft stärkenden Finanzsektors.


 
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