Schwarze Schwäne im Risikomanagement

Zum Umgang mit seltenen Ereignissen


Zum Umgang mit seltenen Ereignissen: Schwarze Schwäne im Risikomanagement Kolumne

Alle Schwäne sind weiß! So lautete bis zum 17. Jahrhundert das anerkannte europäische, ornithologische Wissen zur Farbe von Schwänen. Erst nach der Entdeckung des ersten schwarzen Schwans in West-Australien wurde die "objektive" Wahrheit, dass alle Schwäne weiß sind, widerlegt. Damit wurde ein "vogelkundliches Naturgesetz" erschüttert. In der Gegenwart ist das Vorhandensein von schwarzen Schwänen seit mehr als 200 Jahren bekannt, dennoch werden immer wieder Schwäne in einem neuen "schwarz" entdeckt. Der erstaunliche Erfolg von Google beispielsweise, die Terrorattacke vom 11. September 2001, der Super-GAU in Fukushima, Pandemien oder globale, militärische und auch wirtschaftliche Krisen sind unsere "neuen" schwarzen Schwäne heute.

Nicht alle Schwäne sind weiß – schwarze Schwäne existieren. Diese Erkenntnis hat uns bereits im 17. Jahrhundert erreicht. Zoologisch betrachtet sind schwarze Schwäne immer noch ein Kuriosum. Für das Management von Ausnahmesituationen und "High-Severity-Low-Probability"-Risiken stellen sie jedoch eine kaum bewältigbare Herausforderung dar. Insbesondere Philosophen beschäftigen sich seit jeher mit dem Begriff der Wahrheit sowie unterschiedlicher Wahrheitsaussagen. So unterscheiden sie zwischen relativer, absoluter und objektiver Wahrheit. Der relativen Wahrheit liegt ein Wahrheitsverständnis zu Grunde, das auf einem, zu einem bestimmten Zeitpunkt gültigen Erfahrungsschatz basiert. Absolute Wahrheit hingegen ist ein Wahrheitsverständnis, ein idealer zukünftiger Konvergenzpunkt, der ein absolutes Wissen über die Wirklichkeit voraussetzt. Die absolute Wahrheit umfasst unwiderlegbare Erkenntnisse über die gestellte Frage. Die objektive Wahrheit ist sehr eng mit der absoluten Wahrheit verbunden. Objektiv wahr ist eine Behauptung, deren Inhalt dem objektiven und heutigen Kenntnisstand aus Wissenschaft und Technik entspricht und nach den Grundlagen der Wissenschaftstheorie keine widerlegenden Fakten existieren.

"Alle Schwäne sind weiß!" Hätten wir diese Behauptung vor der Entdeckung des schwarzen Schwans auf wahr oder unwahr bewerten müssen, würden wir aus der Unkenntnis der Existenz dieser besonderen Spezies an Schwänen auf wahr plädieren. Es entspräche der "objektiven" Wahrheit. Sie gilt, solange sie nicht durch eine neue Erkenntnis widerlegt wird. Zur "absoluten" Wahrheit fehlt jene kleine, nicht bewertbare Unsicherheit, dass dennoch ein schwarzer Schwan gefunden werden kann. Damit zerstören schwarze Schwäne "objektive" Wahrheiten. Sie repräsentieren das unwahrscheinliche Ereignis, dass die "objektive" Wahrheit zur "absoluten" Unwahrheit wird. Das Schiff ist unsinkbar. So bezeichneten Experten sowie der Kapitän Edward John Smith im Jahr 1912 das damals größte Passagierschiff der britischen Reederei White Star Line – die RMS Titanic. Das Schiff galt als Wunder der Technik und wurde aufgrund der vollautomatischen Wasserschutztüren zwischen den 16 wasserdicht abschottbaren Abteilungen von Experten als "praktisch unsinkbar" bezeichnet. Bei der Jungfernfahrt nach New York war allerdings wohl ein schwarzer Schwan an Bord und hat die als absolut wahr angenommene Behauptung – das Schiff sei unsinkbar – zur "absoluten" Unwahrheit gewandelt. Auf der Reise nach New York kollidierte bekanntlich die Titanic am 14. April 1912 gegen 23:40 Uhr mit einem Eisberg und sank. Zu den etwa 1.500 Opfern zählte auch Edward John Smith, dessen Leiche nie gefunden wurde.

Zerbrechlichkeit unseres (historischen) Wissens

Besonders kritisch mit der grundsätzlichen Aussagefähigkeit von Modellen in Sozialwissenschaften, speziell auch in der Volkswirtschaft und im Risikomanagement, befasst sich Taleb [vgl. Taleb 2008]. Er verweist auf die schon erwähnte herausragende Bedeutung sehr seltener und nahezu unvorhersehbarer Einzelereignisse für die Entwicklung der Gesellschaft und insbesondere auch der Wissenschaft. Derartige außergewöhnliche Einzelereignisse, die er "Schwarzen Schwan" (Black Swan) nennt, sind "Ausreißer", die außerhalb des üblichen Bereichs der Erwartung liegt, da in der Vergangenheit nichts Vergleichbares geschehen ist.

Die Schwarze-Schwan-Illustration veranschaulicht eine schwerwiegende Beschränkung bei unserem Lernen durch Beobachtung oder Erfahrung und die Zerbrechlichkeit unseres (historischen) Wissens. Für die meisten Experten und Laien lag es bis zum 17. Jahrhundert schlichtweg außerhalb der eigenen Erfahrungen und Vorstellungskraft, dass schwarze (Trauer-) Schwäne in allen Bundesstaaten Australiens vorkommen, sowohl auf dem Festland wie auch in Tasmanien.

Taleb behauptet, dass wir systematisch die schmerzhaften Folgen von Extremereignissen – insbesondere auch im Risikomanagement – unterschätzen. Talebs Analyse ist einfach und schlicht: Wir denken in schlüssigen Geschichten, verknüpfen Fakten zu einem stimmigen Bild, nehmen die Vergangenheit als Modell für die Zukunft. So schaffen wir uns eine Welt, in der wir uns zurechtfinden. Aber die Wirklichkeit sieht in der Regel anders aus: Chaotisch, komplex, überraschend und unberechenbar [vgl. Romeike 2010, S. 59 ff.].

Taleb glaubt, dass die meisten Menschen – und eben auch Risikomanager – schwarze Schwäne ignorieren, weil es für uns angenehmer ist, die Welt als geordnet und verständlich zu betrachten. Taleb nennt diese Blindheit "platonischer Fehlschluss" und legt dar, dass dies zu drei Verzerrungen führt [vgl. Romeike 2009]:

  • Erzählerische Täuschung (narrative fallacy): Das nachträgliche Schaffen einer Erzählung, um einem Ereignis einen erkennbaren Grund zu verleihen.
  • Spieltäuschung (ludic fallacy): Der Glaube daran, dass der strukturierte Zufall, wie er in Spielen anzutreffen ist, dem unstrukturierten Zufall im Leben gleicht. Taleb beanstandet Modelle der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie wie den Random Walk.
  • Statistisch-regressive Täuschung (statistical regress fallacy): Der Glaube, dass sich das Wesen einer Zufallsverteilung aus einer Messreihe erschließen lässt.

Diese Erkenntnis ist nicht neu: Bereits der französische Mathematiker Benoît B. Mandelbrot kritisierte seit Jahrzehnten viele traditionelle Risikomodellierungsansätze, da sie die Realität nur sehr eingeschränkt abbilden würden. Basierend auf seinen Analysen sind die meisten Risikomodelle der Banken und Versicherungsunternehmen blind für Extremereignisse. Dies hänge vor allem damit zusammen, dass viele Modelle auf der Annahme der Gauß'schen Normalverteilung basieren. Mandelbrot weist darauf hin, dass Risiken falsch gemessen werden: "Jahrhunderte hindurch haben Schiffbauer ihre Rümpfe und Segel mit Sorgfalt entworfen. Sie wissen, dass die See in den meisten Fällen gemäßigt ist. Doch sie wissen auch, dass Taifune aufkommen und Hurrikane toben. Sie konstruieren nicht nur für die 95 Prozent der Seefahrttage, an denen das Wetter gutmütig ist, sondern auch für die übrigen fünf Prozent, an denen Stürme toben und ihre Geschicklichkeit auf die Probe gestellt wird. Die Finanziers und Anleger der Welt sind derzeit wie Seeleute, die keine Wetterwarnungen beachten." [Mandelbrot 2004, S. 52 sowie Romeike 2010, S. 61]

Extreme Ereignisse sind oft das Resultat (nicht skalierbarer) Verstärkungseffekte, wie sie sich gerade bei vielen ökonomischen Phänomenen zeigen. So wirken sich kleine (zufällige) Abweichungen bei Einkommen und Vermögen im Zeitverlauf in einer extremen Ungleichverteilung des Vermögens aus und Zufallserfolge beispielsweise von Schriftstellern oder Schauspielern führen zu einer Bekanntheit, die erhebliche Vorteile bei zukünftigen Aktivitäten mit sich bringt, und auch Ungleichheit fördert.

Unknown unknowns

Das Phänomen der schwarzen Schwäne ist eng verbunden mit dem grundlegenden (philosophischen) Problem der Induktion, also dem Schließen von (endlichen) Vergangenheitsdaten auf die Zukunft. Es besteht immer das Problem, dass möglicherweise sehr relevante Extreme (aber seltene) Ereignisse im betrachteten Vergangenheitszeitraum nie eingetreten sind. Wären diese Ereignisse eingetreten, hätten sie auf Grund ihrer außerordentlichen Höhe jedoch erhebliche Auswirkungen beispielsweise auf die Schätzung der Erwartungswerte aber auch des Risikos (etwa der Standardabweichung) der betrachteten Größe [Zur kritischen Betrachtung der Ökonometrie vor dem Hintergrund schwarzer Schwäne, aber auch von Methoden wie GARCH siehe Taleb 2008, S. 194-195].

Ein wesentliches Problem bei statischen Daten der Vergangenheit ist die Zirkularität der Statistik [siehe Taleb 2008, S. 369]. Die Hypothese über Wahrscheinlichkeitsverteilung wird getestet auf Grundlage von (endlichen) Daten. Notwendig ist es dabei zu wissen, wie viel Daten erforderlich sind, um einen Anpassungstest bezüglich einer bestimmten Wahrscheinlichkeitsverteilung vorzunehmen. Um allerdings die notwendige Menge an statistischen Daten beurteilen zu können, ist wiederum die Annahme einer bestimmten Wahrscheinlichkeitsverteilung (in der Praxis der Banken und Versicherungen nicht selten die Normalverteilung) erforderlich. Damit tritt eine Zirkularität auf.

Man erkennt hier die unmittelbare Nähe zum wissenschaftlichen Falsifikationismus-Prinzip in Poppers "Kritischen Rationalismus". Dem zu Folge sind auf Grund empirischer Daten abgeleitete Erkenntnisse immer als vorläufige (ggf. bewährte) Hypothesen aufzufassen. Der wissenschaftliche Fortschritt resultiert damit primär aus dem Versuch eine derartige Hypothese zu verwerfen (zu falsifizieren). In der Praxis gehen Menschen jedoch meist umgekehrt vor. Gerade die psychologische Forschung zeigt, dass Menschen versuchen, eine vorhandene Meinung (ein Vorurteil) durch zusätzliche Daten abzusichern bzw. sogar gezielt nur diejenigen Informationen zu Kenntnis zu nehmen, die ihre eigene bestehende Einschätzung unterstützen [vgl. Gleißner/Romeike 2012 sowie Romeike 2013].

Im Kern behauptet Popper, dass jede Theorie nur solange gilt, bis ihr Gegenteil oder etwas völlig Neues bewiesen wird. Er verhalf damit dem Schwarzen Schwan zur Metapher für extrem seltene Ereignisse, die kaum vorhersehbar sind, aber großen Einfluss auf unser Denken und Handeln haben. Das Unbekannte "There are known knowns [...] But there are also unknown unknowns" ("Es gibt bekannte Bekannte [...] Aber es gibt auch unbekannte Unbekannte").

In einer Rede am 12. Februar 2002 griff der damalige US-Verteidigungsminister Donald Henry Rumsfeld diese Erkenntnis auf [vgl. Rumsfeld 2011]. Mit der Bezeichnung "unbekannte Unbekannte" beschrieb Rumsfeld, dass es Dinge, Ereignisse und Erscheinungen gibt, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen ("Berichte, wonach etwas nicht passiert ist, finde ich immer interessant, denn wie wir wissen, gibt es bekannte Wahrheiten, also es gibt Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie wissen. Wir wissen auch, dass es bekannte Unbekannte gibt, das heißt wir wissen, dass es Dinge gibt, die wir nicht wissen. Aber es gibt auch unbekannte Unbekannte – also Sachen, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen". Er klassifizierte damit den Grad des Unbekannten. Es ist viel mehr als eine Wortspielerei (vgl. Tab. 01).

 

Knowledge

Meta-Knowledge

 

Knowns

Unknowns

known

known Knowns

known Unknowns

unknown

Unknown Knowns

Unknown Unknowns

Tab. 01: Bekanntes/unbekanntes Wissen/Unwissen [Quelle: Romeike/Stallinger 2014, S. 8]

Bekannte Bekannte, unbekannte Bekannte, bekannte Unbekannte und unbekannte Unbekannte nehmen im Management von Ausnahmesituationen eine wichtige Rolle ein. Das bekannte Bekannte bedeutet "Ich weiß, was ich weiß!" Rumsfeld bezeichnet damit bereits Bestätigtes. Es ist die "absolute" Wahrheit, von der er spricht. Aufgrund der Unberechenbarkeit der Zukunft kann mit bekanntem Bekanntem lediglich die Vergangenheit beschrieben werden. Das unbekannte Bekannte kann mit der Aussage: "Ich erwarte was ich weiß!" beschrieben werden. Es wird damit eine unbestätigte Erwartung beschrieben. Es ist die relative Wahrheit, die zum aktuellen Zeitpunkt auf gültigen Erfahrungschatz basiert. Bei der Bewertung von Chancen und Risiken wird damit das Geplante bzw. Erwartete bezeichnet.

Das bekannte Unbekannte oder "Ich weiß, was ich nicht weiß!" Damit wird erkanntes Unwissen beschrieben. Wissen über erkannte Gefahren mit unbestimmtem Ausgang. Bekannte Unbekannte entsprechen identifizierten Chancen und Risiken.
Unbekannte Unbekannte oder "Ich weiß nicht was ich nicht weiß". Die unbekannten Unbekannten, sie entsprechen exakt jener Restunsicherheit, die der "objektiven" Wahrheit zur "absoluten" Wahrheit fehlt.

Es sind Gefahren, von denen nicht bekannt ist, dass es sie gibt. Hier befinden wir uns in der Welt der schwarzen Schwäne.

Normalverteilungshypothese als großer intellektueller Betrug

Neben der Sensibilisierung für die Bedeutung solcher seltenen Extremereignisse, die in der Statistik den "Fat Tails" von Wahrscheinlichkeitsverteilungen (vgl. Abb. 01) zugeordnet sind, möchte Taleb vor allem auf ein psychologisches Phänomen hinweisen: Alle Menschen neigen dazu, sich so zu verhalten, als würde es derartige seltene Extremereignisse nicht geben. Auf Grund der Unvorhersehbarkeit gerade der besonders wesentlichen extremen Themen setzt sich Taleb [vgl. Taleb 2008] extrem kritisch mit allen Berufen, Experten und Wissenschaftlern auseinander, die Prognosen erstellen.

Abb. 01: Schwarze und graue Schwäne als "fat tail"-Ereignisse [Quelle: Romeike/Stallinger 2014, S. 9].Abb. 01: Schwarze und graue Schwäne als "fat tail"-Ereignisse [Quelle: Romeike/Stallinger 2014, S. 9].

Dies gilt sowohl für das individuelle Verhalten als auch für Unternehmen, die beispielsweise im Rahmen ihrer Risikomanagementsysteme gerade die hier an sich besonders zu betrachtenden Extremereignisse schlicht ignorieren, beispielsweise durch die Verwendung der Hypothese normalverteilter Ergebnisse, die im direkten Widerspruch zur Existenz schwarzer Schwäne steht. Taleb bezeichnet es sogar als "großen intellektuellen Betrug", dass die Menschen, aber auch die Wissenschaft und die Unternehmenspraxis, sich primär mit den typischen und normalen Entwicklungen befassen, die beispielsweise durch die Normalverteilung erfasst werden, aber die für die Entwicklung tatsächlich besonders maßgeblichen "Extremereignisse" systematisch vernachlässigt oder komplett ignoriert werden. Die Kritik an der Normalverteilungshypothese, die Extremrisiken vernachlässigt, lässt sich auch unmittelbar übertragen auf die mit dieser verbundenen Konzeption von Korrelation und Regression [siehe Taleb 2008, S. 290].

Da derartige Ausreißer in Form schwarzer Schwäne nicht vorhersehbar sind, bleibt als einzige Strategie, sich auf ihre Existenz einzustellen, das heißt Vorbereitungen, für mögliche Auswirkungen einer im Detail (und den Einzelursachen) unbekannten Extrementwicklung zu treffen.

Auf Grund des ausgeprägten Modellplatonismus, speziell der völlig realitätsfernen Annahme der durchgängigen Gültigkeit von Normalverteilungshypothese und Rationalität der Menschen im Verhalten, sieht Taleb einen Großteil der mathematisch geprägten Wirtschaftswissenschaften als "Pseudowissenschaft" an und verweist hier insbesondere auf die Modelle von Markowitz, Sharpe, Debreu, Merton, Scholes, Arrow, Hicks und speziell auch der von Samuelson, der nach seiner Einschätzung die strikte mathematische Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften maßgeblich geprägt hat – ohne aber auf eine adäquate (besser bewertete) Erfassung der in der Realität vorhandenen extremen Zufälligkeit durch geeignete Annahmen bezüglich Wahrscheinlichkeitsverteilungen und stochastischer Prozesse adäquat einzugehen [vgl. vertiefend Taleb 2008, S. 333-341].

Die mangelnde Realitätsnähe in Verbindung mit der ausgeprägten Tendenz, gerade die Unsicherheiten und Unvollkommenheiten der Modelle selbst zu ignorieren, wird nach seiner Einschätzung besonders deutlich am Zusammenbruch des Hedgefonds Long-Term Capital Management (LTCM), an dem Robert Merton und Myron Scholes, Ökonomie-Nobelpreisträger, als Gründer beteiligt waren [vgl. Lowenstein 2000]. Die Unterschätzung der tatsächlich vorhandenen Risiken im Vergleich zu der in den von diesen Wissenschaftlern in ihren Modellen berücksichtigten Normalverteilungshypothese hatte hier unmittelbare Konsequenzen: "Die Ideen von Merton und Scholes und der Modernen Portfoliotheorie fing an, wie Seifenblasen zu platzen. Das Ausmaß der Verluste war spektakulär – zu spektakulär, als dass wir die intellektuelle Komödie ignorieren dürften." [Taleb 2008, S. 339]

Klarstellend ist hier zu erwähnen, dass auch Extremereignisse unter Umständen statistisch in gewissem Rahmen vorhersehbar sind – und damit keine schwarzen Schwäne darstellen. Aber auch bei der Vorhersage solcher "grauen" Schwäne, mit denen sich beispielsweise die statistische Extremwerttheorie befasst, sind völlig andere Verfahren erforderlich, als die Statistik auf Basis der Normalverteilungshypothese [vgl. vertiefend Mandelbrot 1963 sowie Zeder 2007]. Eingesetzt werden hier beispielsweise Pareto-Verteilungen und andere Instrumente der Extremwerttheorie.

Das Durchschnitts-Problem

Als grundlegendes Problem stellt sich außerdem dar, dass Menschen primär bei Prognosen den Mittelwert bzw. Erwartungswert betrachten. Tatsächlich wesentlicher ist die realistische Bandbreite [vgl. Romeike/Stallinger 2012]. So ist es für einen Nichtschwimmer durchaus gefährlich einen Fluss zu durchqueren, der im Mittel 1,20 m tief ist [vgl. Taleb 2008, S. 202].

Die eigenen Entscheidungen sollten mehr durch den Bereich der möglichen Ereignisse beeinflusst werden als durch den Mittelwert. Der erste Schritt bei der Weiterentwicklung des Verständnisses bei Entscheidungen unter Unsicherheit besteht damit darin, ergänzend zum Mittelwert auch die realistische Bandbreite zu betrachten. Im nächsten Schritt sollte bei der Schätzung dieser Bandbreite auch auf die Möglichkeit von (noch nicht vorgekommenen) Extremereignissen (Schwarzen Schwänen) berücksichtigt werden, also beispielsweise die Bandbreitenschätzung auf Grundlagen der Normalverteilungshypothese modifiziert werden. Hier können Extremwertverteilung, wie die Pareto-Verteilung helfen, da mit Hilfe dieser schon eine Vorstellung darüber gebildet werden kann, welche Extremereignisse in Anbetracht beobachtbarer (harmloserer) Phänomene tatsächlich realistisch sind. Die Pareto-Verteilung nutzt nämlich die in der Natur häufig feststellbare Skalierbarkeit für derartige Schlussfolgerungen. Im engeren Sinne lassen sich schwarze Schwäne hier jedoch nicht erfassen. Auch diese sollten zumindest in ihrer Möglichkeit im Kalkül betrachtet werden und vor allen Dingen sollte man sich der Begrenztheit des Wissens, und damit der realistischen Einschätzung der Prognosegüte, befassen.

Sicherlich ist es eine der größten Herausforderungen in der Praxis, wenn tatsächlich existierende Unsicherheit komplett verdrängt und nur über (wenig belastbare) Erwartungs- und Mittelwerte im Rahmen der Entscheidungsfindung nachgedacht wird. Es ist sicherlich besser, wenn auch eine zunächst unvollkommene Prognose von Bandbreiten erfolgt. Schwierig und gefährlich wird es jedoch, wenn diese Bandbreiten als "sicher richtig" eingeschätzt werden. Dies gilt speziell auch für Risikomanagement-Modelle der Banken [vgl. Taleb 2008, S. 275]. Er führt diesbezüglich beispielsweise zu dem auf der Normalverteilungshypothese basierenden RiskMetrics Modellen aus: "In den 1990er Jahren gefährdete der Riese J.P. Morgan durch die Einführung von RiskMetrics die ganze Welt. Es handelte sich um eine trügerische Methode, die darauf abzielte, die Risiken der Leute zu managen […] Und wenn ich mir die Risiken der vom Staat geförderten Institution Fanny Mae ansehe, scheint sie auf einem Fass Dynamit zu sitzen und durch den kleinsten Schluckauf gefährdet zu sein. Wir brauchen uns deswegen aber keine Sorgen zu machen, denn ihr Heer von Wissenschaftlern hält diese Ereignisse für unwahrscheinlich."

Das Dorf und der unbekannte Dschungel

Der Welt des Unbekannten kann alternativ auch mit der Metapher des Lebens im Dorf und dem unbekannten Dschungel – der das Dorf umgibt – beschrieben werden (vgl. Abb. 02). Innerhalb des Dorfes – umgeben von einem Zaum – fühlen wir uns sicher und haben die wesentlichen Risiken im Griff. Wir können die Risiken des normalen Dorflebens (beziehungsweise Geschäftsbetriebs) mit Hilfe von statistischen Methoden relativ gut bewerten. Wir sammeln statistische Daten über die Risikoursachen und -wirkungen. Doch wie wird das Risikomanagement jenseits des Dorfzauns aussehen? Möglicherweise verbringen wir ein Prozent unserer Zeit jenseits des Zauns. Dort im Dschungel lauern unbekannte Risiken – etwa in Form von schwarzen Schwänen. Einige Dorfbewohner berichten uns von potenziellen Risiken. Andere Dorfbewohner kommen möglicherweise von ihrem Ausflug in den Dschungel garnicht mehr zurück.

Abb. 02: Die Metapher von Dorf und Dschungel [Quelle: Eigene Abbildung in Anlehnung an GARP 2008]Abb. 02: Die Metapher von Dorf und Dschungel [Quelle: Eigene Abbildung in Anlehnung an GARP 2008]

Das Risikomanagement für den Dschungel muss anders aussehen: Es wäre sicherlich sinnvoll, wenn die Dorfbewohner mit Hilfe von Kreativitätsmethoden versuchen würden, potenzielle (Stress-)Szenarien zu definieren. Hierbei bietet sowohl die deterministische als auch die stochastische Szenarioanalyse adäquate Werkzeuge [vgl. vertiefend Romeike/Hager 2020 sowie Romeike/Spitzner 2013]. Je komplexer das System – also hier der Dschungel – desto sinnvoller ist der Einsatz von stochastischen Werkzeugen oder Simulationsmethoden, da komplexe Systeme keiner einfachen Ursache-Wirkungskette folgen. So sind komplexe Systeme in der Regel durch Nichtlinearität gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass kleine Störungen des Systems oder minimale Unterschiede in den Anfangsbedingungen häufig zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen (Schmetterlingseffekt, Phasenübergänge) führen können.

Außerdem sind komplexe Systeme häufig durch Pfadabhängigkeit gekennzeichnet, das heißt ihr zeitliches Verhalten ist nicht nur vom aktuellen Zustand, sondern auch von der Vorgeschichte des Systems abhängig. Hier stoßen deterministische Ansätze sehr schnell an ihre Grenzen.

In Tab. 02 sind die wesentlichen Aspekte von Dorf und Dschungel zusammenfassend dargestellt

Risikomanagement für das Dorf

Risikomanagement für den Dschungel

Ziel

  • Statistische Prognose, exakte Quantifizierbarkeit
  • Erkennen potenzieller Risiken,
  • Erfassung von Frühwarnindikatoren,
  • konkrete und präventive Planung für den Risikoeintritt (Krisen-/Notfallmanagement)

Methoden

Herausforderungen in der Praxis

  • Exaktheit der Modelle,
  • mathematische Komplexität,
  • Kommunikation der Experten gegenüber den Anwendern („Expertenwissen in Elfenbeintürmen“)
  • Transparenz und Verständnis des Geschäftsmodell,
  • Kreativität („Out oft the box“-Denken bei der Anwendung von Kreativitätsmethoden, siehe oben),
  • Integration in der Entscheidungsprozesse,
  • „Ernstnehmen“ von eher untypischen Szenarien.

Wo bestehen die Tücken?

  • Blindes Vertrauen in Modellwelten.
  • Das Dort wird als das relevante Risikouniversum betrachtet; der Dschungel wird ausgeblendet.
  • Kreativitätsmethoden (Szenarioanalyse, Synektik, Brainwriting etc.), Notfallpläne, Krisenmanagement, Stresstests werden in „guten“ Zeiten ignoriert.
  • Denkfehler: Zukunft ist Fortschreibung der Vergangenheit; Ignorieren von grauen und schwarzen Schwänen.

Tab. 02: Risikomanagement für das Dorf und für den Dschungel

Wie schwarz sind schwarze Schwäne?

Nicht alle schwarzen Schwäne sind gleich schwarz. Schwarze Schwäne sind "Unbekannte Unbekannte", also Vorkommnisse, die wir nicht kennen und auch nicht bewerten können. Vielleicht sind es nicht wirklich unbekannte Unbekannte, sondern nur Unbekannte, die wir aus dem Blickfeld verloren haben. Bei einer genaueren Analyse handelt es sich nicht selten eher um graue Schwäne. Betrachten wir den atomaren Zwischenfall in Fukushima, deren Unfallserie am 11. März 2011 begann. Wir kennen die Begriffe GAU und Super-GAU. GAU steht dabei für "Größter anzunehmender Unfall". Es wird damit die Situation beschrieben, dass die atomare Kettenreaktion unsteuerbar wird, eine Kernschmelze eintritt und Radioaktivität in die Umwelt entweicht. Dieser angebliche schwarze Schwan wurde bereits bei der Reaktorkatastrophe am 26. April 1986 in Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl nahe der ukrainischen Stadt Prypjat entdeckt.

Auch die Existenz von Tsunamis ist bekannt – eine bekannte Unbekannte. Aufgrund historischer Aufzeichnungen war bekannt, dass starke Tsunamis die japanische Küstenregion verwüstet hatten (etwa 1611, 1896, 1933). In der südlichen Region (Sendai) gab es vermutlich nur im Jahr 869 einen ähnlich hohen Tsunami. Auf der Basis verschiedener wissenschaftlicher Analysen solcher historischer seismischer Flutwellen und von GPS-Messungen war bekannt, dass sich eine Spannweite von Wiederkehrperioden von 440 bis 1.500 Jahren für ein Großbeben der Magnitude Mw9,0 in dieser Region Japans ergibt [vgl. vertiefend Allmann 2011, S. 8].

Möglicherweise entspricht das Ereignis in Fukushima einem grauen Schwan (vgl. Abb. 01). Auch die jüngste Finanzkrise erscheint unter einem etwas anderen Licht, wenn die Historie über einen längeren Zeitraum analysiert wird [vgl. vertiefend Reinhart/Rogoff 2009]. Bei einer Finanzkrise handelt es sich keinesfalls um eine unbekannte Unbekannte.

Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff haben in ihrem Buch Hunderte von Finanzkrisen der letzten acht Jahrhunderte in über 66 Ländern analysiert. In sechs Teilen stellen die Autoren ihre Untersuchungsergebnisse vor. Die erste Staatsschuldenkrise ereignete sich ab dem Jahr 1340. Als Edward III. von England im Jahr 1340 nach einer Reihe von militärischen Niederlagen seine Schulden nicht zurückzahlte, erreichte diese Kunde in Windeseile die Stadt Florenz. Da die großen florentinischen Banken Edward hohe Geldsummen geliehen hatten, erlitt die florentinische Wirtschaft in der Folge einen "Bank Run". So ging im Jahr 1343 die Peruzzi-Bank Pleite, im Jahr 1346 folgte die Bardi-Bank. England konnte sich von seinem Status als wiederholter säumiger Schuldner bis zur "Glorious Revolution" im Jahr 1688 nicht befreien. Rogoff und Reinhart zeigen auf, dass sich allein in der Zeit seit 1800 rund 320 Staatsschuldenkrisen ereignet haben. Allein Frankreich kann zwischen 1558 und 1788 acht Staatsbankrotte verbuchen. Spanien kommt in dem Zeitfenster von 1557 bis 1647 auf sechs Staatspleiten. Damit widerlegen die Autoren die nicht selten anzutreffende These, dass Finanzkrisen vor allem ein Produkt der Gegenwart seien.

Als jüngstes Beispiel könnte man COVID-19-Pandemie anführen, verursacht durch eine Infektion mit dem bis dahin unbekannten Coronavirus SARS-CoV-2. Eine derartige Pandemie ist das Gegenteil eines "schwarzen Schwans". COVID-19 war eindeutig ein weißer Schwan, also ein Ereignis, das mit Gewissheit irgendwann eintreffen wird. Die einzige Unbekannte war der genaue Zeitpunkt – aber eben gerade nicht das Ereignis. Neben vielen unabhängigen Wissenschaftlern hatte vor allem Hans Rosling [vgl. Rosling 2018] bereits vor vielen Jahren auf die fünf globalen Risiken hingewiesen, die uns beunruhigen sollten. Als Top-1-Risiko beschreibt er in seinem Buch "Factfulness" das Risiko einer globalen Pandemie. Auch die detaillierte Risikoanalyse aus dem Jahr 2012 "Pandemie durch Virus Modi-SARS", die von Wissenschaftlern und Experten des Robert Koch-Instituts (RKI) und zahlreichen Bundesämtern erstellt wurde, liefert einen exzellenten Gegenbeweis. Das fiktive Szenario beschrieb eine von Asien ausgehende, globale Verbreitung eines neuartigen Erregers "mit außergewöhnlichem Seuchengeschehen". Hierfür wurde der hypothetische, jedoch mit realistischen Eigenschaften versehene Erreger "Modi-SARS" zugrunde gelegt.

Abb. 03 zeigt die Verteilung der Jahresrenditen der im S&P 500 Index erfassten Unternehmen im Zeitraum zwischen den Jahren 1825 und 2008. Der vermeintliche schwarze Schwan besuchte uns alleine im Zeitraum zwischen 1825 bis 2008 bereits zum dritten Mal. Und graue Schwäne sind noch viel häufiger zu beobachten. Eine Finanzkrise, mit einer Intensität von 2008, tritt statistisch betrachtet alle 60 Jahre auf. In den etwa 180 Jahren von 1825 bis 2008 traten drei entsprechende Krisen (1931, 1937, 2008) auf.

Abb. 03: Häufigkeitsverteilung der Jahresrenditen des S&P 500 Index von 1825 bis 2008 [Quelle: Allianz Global Investors 2009, S. 4]Abb. 03: Häufigkeitsverteilung der Jahresrenditen des S&P 500 Index von 1825 bis 2008 [Quelle: Allianz Global Investors 2009, S. 4]

Das wesentliche Merkmal, das Schwarze Schwäne auszeichnet, ist deren Entdeckungswahrscheinlichkeit. Dunkelgraue bis Schwarze Schwäne wohnen im "Long Tail" bzw. "Fat Tail" einer statistischen Verteilung (siehe Abb. 01). Chancen sind Upside-Abweichungen, Risiken hingegen Downside-Abweichungen vom erwarteten Wert. Schlechteste Fälle werden als "Known Unknowns", als bekannte Worst-Case-Szenarien bewertet. Sie entsprechen sehr oft jenem Risiko, das mit einer Restunsicherheit von fünf Prozent, ein Prozent oder auch 0,5 Prozent angenommen wird. Diese Risiken werden durch Maßnahmen gesteuert oder bewusst übernommen, sofern eine Steuerung nicht (wirtschaftlich) möglich ist. Über diese Worst-Case-Risiken hinaus befindet sich der Lebensraum der "dunkelfarbigen" Schwäne. Der "Graue Schwan" als "Expected Shortfall" (ES) lebt im Erwartungswert aller, über den Worst-Case hinausgehenden Risiken. Über den ES hinaus nimmt der Schwärzungsgrad der Schwäne zu bis die Verteilungskurve auf der x-Achse aufliegt.

Fazit

Schwarze Schwäne sind scheue Vögel und kaum zu entdecken. Erst wenn sie auffliegen und Schäden mit enormer Auswirkung verursachen, können wir sie erkennen. Insgesamt muss es darum gehen, mehr Zeit und Ressourcen auf das tatsächliche ernsthafte Nachdenken über die wesentlichen kritischen Zukunftsszenarien und Risiken zu lenken. Banken und Versicherungen benötigen Risikomodelle und Risikobewältigungsstrategien, die auf extreme Krisenszenarien ausgerichtet sind und nicht solche, die nur dann gut funktionieren, wenn Risiken lediglich moderat sind. Das Risikomanagement muss auch Szenarien mit extrem geringen Randwahrscheinlichkeiten in der Steuerung berücksichtigen. Der Umgang mit den "unbekannten Unbekannten" ist wesentlich schwieriger, da sie bis zum Eintritt unentdeckt bleiben. Das sind die wahren schwarzen Schwäne, die selbst im besten Risikomanagement-Prozess nur schwer antizipierbar sind. Mit Hilfe von Kreativitätsmethoden – etwas im Bereich der stochastischen Szenarioanalyse oder eine Delphi-Analyse – haben Unternehmen jedoch die Chance, potenzielle Zukunftspfade durchzuspielen und sich adäquat vorzubereiten. Risikomanagement darf sich nicht nur auf das Dorf konzentrieren, sondern auch die potenziellen Risikoszenarien des Dschungels berücksichtigen. Hierbei bieten hypothetische Expertenszenarien, Methoden des "Reverse Engineering", Reverse Stresstests, die Analyse historischer Krisen sowie das Hinterfragen grundlegender Modellannahmen ein wertvolle Basis in der Praxis.

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Autoren:

Frank Romeike
ist geschäftsführender Gesellschafter der RiskNET GmbH – The Risk Management Network.

Dr. Dr. Manfred Stallinger ist staatlich befugter und beeideter Ziviltechniker, Sachverständiger bei Gericht sowie Gründer der calpana business consulting GmbH.

 

Hinweis: Der Beitrag erschien in einer leicht abgewandelten Form im Jahr 2014 erstmalig in der Fachzeitschrift RISIKO MANAGER: Romeike, Frank / Stallinger, Manfred (2014): Schwarze Schwäne im Risikomanagement – Zum Umgang mit seltenen Ereignissen, in: RISIKO MANAGER, 06/2014, S. 1, 7-13.

 

[ Bildquelle Titelbild: Adobe Stock / Rattana ]
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