Corona-Krise und die Risikolage der Welt

Wie riskant ist die Welt wirklich?


Corona-Krise und die Risikolage der Welt: Wie riskant ist die Welt wirklich? Kolumne

Die durch das Virus SARS-CoV-2 ausgelöste COVID-19-Pandemie mit ihrem rasanten Anstieg der Zahl von Todesopfern und dem massiven Einbruch der Wirtschaft scheint es einmal mehr zu belegen: Die Welt ist für die Menschen riskanter denn je und jederzeit drohen unvorhersehbare "Black-Swan-Ereignisse" (im Sinne von Taleb 2008), auf die man sich nicht vorbereiten kann. Dieser Eindruck ist jedoch falsch. Er ist das Resultat einer völlig verzerrten Risikowahrnehmung, mangelnder Betrachtung von Risikodaten und schwach entwickelten Fähigkeiten in der Risikoanalyse. Wie stellen sich tatsächlich die Fakten dar?

In einem Vortrag bei der Jahreskonferenz der Risk Management Association (RMA) im Oktober 2019 habe ich mich mit der Risikolage der Welt befasst. Eine Kurzfassung des Vortrags "Wie riskant ist die Welt wirklich?" ist diesem Text angefügt (siehe Link für den Download am Ende).

Die Kernaussagen der Präsentation, die den Wissensstand der Risikoforschung zum Thema referiert, lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  1. Die Welt ist heute wesentlich weniger riskant für Menschen, als zu jedem Zeitpunkt davor. Dass die Gesamtheit der zum Beispiel das Leben der Menschen bedrohenden Risiken ("Lebensrisiken") deutlich zurückgegangen ist, sieht man am weltweiten Anstieg der Lebenserwartung. Während diese im 19. Jahrhundert noch bei rund 40 Jahren lag, ist sie in der Zwischenzeit bei über 70 Jahren. Der Anstieg der Lebenserwartung ist in allen Staaten festzustellen und auch die aktuelle Corona-Pandemie wird an diesem Gesamtbild nichts ändern.
    Die Lebensbedingungen der Menschen sind darüber hinaus in vielerlei Hinsicht besser geworden, wie sich beispielsweise in der Verbesserung des Bildungsniveaus und der Reduzierung des Anteils von Menschen, die in extremer Armut leben, deutlich zeigt (siehe zu einer Vielzahl von Informationen insbesondere Rosling 2018).
    Die wesentliche Ursache für diese nachhaltige Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen, und der Reduzierung der Lebensrisiken, ist das Wirtschaftswachstum. Das Pro-Kopf-Einkommen in einem Staat bestimmt mehr als jeder andere Faktor die Lebenserwartung. Das Wirtschaftswachstum selbst ist abhängig von den Investitionen (Kapitalakkumulation) und dem technischen Fortschritt. Die empirische Evidenz zeigt klar, dass eine kapitalistisch-marktwirtschaftliche Ordnung, mit gesicherten Eigentumsrechten, Vertragsfreiheit und Wettbewerb entscheidend sind für Wirtschaftswachstum und Lebensstandard – und damit auch die Reduzierung der Lebensrisiken. (Es ist hier zu beachten, dass die negativen Auswirkungen des Wachstums – wie beispielsweise in der Folge einer Umweltverschmutzung – in ihren Wirkungen in der Lebenserwartung der Menschen natürlich bereits berücksichtigt sind.)
  2. Selbstverständlich gibt es weiterhin Risiken, denen die Menschen – aber auch Unternehmen und Staaten – ausgesetzt sind. Die Zukunft ist nie sicher vorhersehbar, weil eine Vielzahl Chancen und Gefahren (Risiken) existieren. Die Risikowahrnehmung der Menschen ist aber stark verzerrt. Vergleichsweise unbedeutende Risiken, die aber bildlich gut vorstellbar und in den Medien sehr präsent sind, werden überschätzt. Zu diesem gehören beispielsweise die Risiken aus Flugzeugabstürzen, Naturkatastrophen (speziell Extremwetter), Terror sowie Krieg und Bürgerkrieg. Die gerade infolge der verständlichen Sorgen um den Klimawandel bei vielen Menschen besonders besorgnisauslösenden Naturkatastrophen haben seit Jahrzehnten einen stark sinkenden Trend und im Jahr 2019 nur noch global 9.000 Todesfälle verursacht. Dies entspricht der Anzahl von Todesfällen, die im Straßenverkehr innerhalb von zwei Tagen zu beklagen sind. Auch die Anzahl der Toten durch Terror, Krieg und Bürgerkrieg liegt in der Gesamtheit nur bei ca. 200.000. Andere Risiken werden dagegen gravierend unterschätzt. Unterschätzt werden beispielsweise die Risiken durch Herzkreislauferkrankungen, die maßgeblich vom eigenen Lebenswandel abhängig sind, sowie insbesondere durch Infektionskrankheiten, inklusive Pandemien. Infektionskrankheiten führen zu mehr als 10 Millionen Toten pro Jahr. Allein Malaria verursacht weiterhin über 700.000 Tote im Jahr. Tuberkulose, Hepatitis, Lungenentzündung und Sepsis führen jeweils zu erheblich mehr als einer Millionen Toten jedes Jahr. Auch Pandemien waren und sind eine erhebliche unterschätzte Bedrohung. Wissenschaftler schätzen die Wahrscheinlichkeit einer relevanten Pandemie auf etwa 0,1 – 1 Prozent pro Jahr, d.h. dass ein Mensch mit einer Lebenserwartung von 80 Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Drittel eine solche erleben wird. SARS, Vogelgrippe und Schweinegrippe waren Epidemien, die sich glücklicherweise nicht zu einer echten Pandemie entwickelt haben. Die Spanische Gruppe, die bedeutendste Pandemie des 20. Jahrhunderts, hat vermutlich bis zu 50 Millionen Todesopfer verursacht. Dies zeigt die Bedrohungslage. Aber auch andere "Extremrisiken", wie der Ausfall kritischer Infrastruktur (beispielsweise Blackout in Europa durch einen massiven Cyber-Angriff oder ABC-Waffen-Terrorismus) stellen eine bedeutende Bedrohung dar.
  3. Die Fehleinschätzungen des Gesamtrisikoumfangs und der relativen Bedeutung von Einzelrisiken, wie oben geschildert, führen zu einer falschen Priorisierung von Maßnahmen. Bei (kurzfristig) beschränkten Ressourcen, die einem Staat oder einem einzelnen Unternehmen zur Verfügung stehen, müssen die knappen Ressourcen optimal genutzt werden, um die Risikoposition zu verbessern – also insbesondere auf beeinflussbare wesentliche Risiken ausgerichtet werden. Dies geschieht jedoch sowohl bei den Unternehmen wie auch bei den Staaten nur in völlig unzureichender Weise. Staaten sind auf schwerwiegende Krisen, wie aktuell die Corona-Pandemie, nur unzureichend vorbereitet (siehe Gleißner 2020a). Die Risikomanagementsysteme der Unternehmen zeigen in empirischen Studien seit langem ähnlich gravierende Defizite: es fehlt eine intensive Auseinandersetzung gerade mit den Extremrisiken, die notwendigen Verfahren für die Risikoaggregation und damit die Analyse von Kombinationseffekten von Einzelrisiken, sind unterentwickelt und Risiken werden im Entscheidungskalkül nicht adäquat berücksichtigt (Gleißner 2017 und Gleißner/Romeike 2020 sowie Romeike 2018 und Romeike/Hager 2020). Dies führt beispielsweise dazu, dass eine Unternehmensführung eine hochriskante Investition durchführt oder sich für ein "Single-Sourcing" entscheidet, also auf einen einzelnen statt mehreren Schlüssellieferanten setzt, ohne die damit einhergehende massive Erhöhung der Risiken zu berücksichtigen. Die strategische Aufstellung von Unternehmen ist oft nicht so robust wie sie sein sollte (siehe Gleißner 2016).
  4. Die tiefere Ursache für die unbefriedigende Fähigkeit von Menschen, Unternehmen und ganzen Staaten im Umgang mit einer nicht sicher vorhersehbaren Zukunft besteht darin, dass (1) Risiken verzerrt wahrgenommen werden und zugleich (2) adäquate quantitative Methoden für eine Risikoanalyse kaum implementiert sind. Die psychologische Forschung zeigt, dass Menschen "intuitiv" Risiken fast grundsätzlich falsch wahrnehmen (vgl. Gleißner/Romeike 2012 sowie Romeike 2013) und sich lediglich mit möglichst plausiblen oder gewünschten Einzelszenarien befassen – aber nicht mit möglichen Entwicklungskorridoren (Bandbreiten). Auch auf Ebene der Unternehmen und den Regierungen der Staaten bestehen ähnliche methodische Defizite speziell im Bereich Risikoanalyse und Risikosimulation. Das Wissen aus Risikoforschung und den Methoden des Risikomanagements werden kaum genutzt und Risiken tendenziell verdrängt, oder eben völlig falsch priorisiert. Die fachlich-methodischen Defizite führen genau dazu, dass die oben skizzierten Probleme auftreten, Risiken bei Entscheidungen nicht adäquat berücksichtigt werden und insgesamt eine Absicherung gegenüber den wirklich bedeutenden Risiken unbefriedigend ist.

Fazit

Insgesamt ist die Welt für die Menschen heute viel risikoärmer, als in der Vergangenheit, was insbesondere die erheblich gestiegene Lebenserwartung zeigt. Es verbleiben allerdings weiterhin gravierende Risiken, die jedoch oft nicht als solche erkannt und behandelt werden. Nicht Terroranschläge oder Extremwetterereignisse sind gravierende Bedrohungen, sondern beispielsweise Infektionskrankheiten und Pandemien, Massenvernichtungswaffen (auch eingesetzt durch Terroristen), der Ausfall kritischer Infrastruktur (beispielsweise verursacht durch Cyber-Angriffe) und die abstrakte Bedrohung derjenigen Faktoren, die die insgesamt positive Entwicklung der Lebensbedingungen für die Menschen erst ermöglicht haben (also Wirtschaftswachstum, technischer Fortschritt und die dafür notwendige marktwirtschaftliche Ordnung). Die fehlende adäquate Vorbereitung auf die aktuelle Pandemie, die Corona-Krise, ist nur ein Beispiel dafür, dass ein an sich seit langem als gravierend erkanntes Risiko zu wenig Beachtung gefunden hat – und adäquate Maßnahmen für eine Vorbereitung nicht getroffen wurden. Ohne eine intensivere Nutzung von "Risiko-Know-how" in Unternehmen und auf Ebene der Staaten ist weiterhin zu befürchten, dass ein adäquater Umgang mit den besonders wesentlichen Risiken, denen Menschen, Unternehmen und Staaten ausgesetzt sind, nicht erfolgt. Es ist notwendig die konsequentere Nutzung von "Risiko-Know-how" im Allgemeinen, und in vielfältigen Ergebnissen der Risikoforschung im Speziellen, zu nutzen.

Download

Vortrag "Krisen, Kriege, Katastrophen & Disruption: Wie riskant ist die Welt wirklich?" [Oktober 2019]

Quellenverzeichnis sowie weiterführende Literatur

  • Gleißner, W. (2016): Das Robuste Unternehmen, 07.06.16.
  • Gleißner, W. (2017): Grundlagen des Risikomanagements, 3. Aufl., Vahlen Verlag, München 2017.
  • Gleißner, W. (2018): Risiko, Volkswirtschaft und Wohlstand, in: Growitsch, C./Loose, S./Wehrspohn, R. B. (Hrsg.): Beiträge zu Wirtschaftspolitik und -forschung - Festschrift anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Blum, Center for Economics of Materials CEM, Halle (Saale) 2018, S. 55-68.
  • Gleißner, W. (2020a): Der robuste Staat - Ein strategischer Rahmen zur Absicherung gegen Krisen und Katastrophen, https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3561894, 26.03.2020 (abgerufen am 02.04.2020).
  • Gleißner, W. (2020b): Die Corona-Krise: Fakten, Einordung und Prognose (erscheint in Kürze).
  • Gleißner, W. (2020c): Die Risikolage der Welt (erscheint in Kürze).
  • Gleißner, W./Romeike, F. (2012): Psychologische Aspekte im Risikomanagement - Bauchmenschen, Herzmenschen und Kopfmenschen, in: Risk, Compliance & Audit (RC&A), 06/2012, S. 43-46.
  • Gleißner, W./Romeike, F. (2020): Entscheidungsorientiertes Risikomanagement nach DIIR RS Nr. 2, in: Der Aufsichtsrat, Heft 04/2020, S. 55-57.
  • Romeike, F. (2013): Fooled by Randomness, in: FIRM Yearbook 2013, Frankfurt/Main 2013, S. 25-29.
  • Romeike, F. (2018): Risikomanagement, Springer Verlag, Wiesbaden 2018.
  • Romeike, F. (2020): Perspektive eines Risikomanagers. Covid-19: Seriöser Umgang mit Unsicherheit?, 24.03.20.
  • Romeike, F./Hager, F. (2020): Erfolgsfaktor Risikomanagement 4.0: Methoden, Beispiele, Checklisten – Praxishandbuch für Industrie und Handel, 4. komplett überarbeitete Auflage, Springer Verlag, Wiesbaden 2020.
  • Rosling, H. (2018): Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, Ullstein Verlag, Berlin 2018.
  • Taleb, N. N. (2008): Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, Carl Hanser Verlag, München 2008.
     

Autor:

Prof. Dr. Werner Gleißner
, Vorstand der FutureValue Group AG und Honorarprofessor für Betriebswirtschaftslehre, insb. Risikomanagement, an der TU Dresden. Er ist Autor zahlreicher Fachartikel und -bücher. Weitere Informationen

 

[ Bildquelle Titelbild: Adobe Stock ]
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