Interview mit Dr. Martin W. Hüfner

Die volkswirtschaftliche Risikolandkarte


Die volkswirtschaftliche Risikolandkarte: Interview mit Dr. Martin W. Hüfner Interview

Seit vielen Jahren dominiert das Krisenmanagement in der Folge der Finanz- und Staatsschuldenkrise die Agenda der politischen Akteure. Es ist manchmal nicht ganz einfach, hier den Überblick zu behalten. Und Experten überschlagen sich nicht selten mit Patentrezepten zur Lösung der Probleme. Wir sprachen mit Dr. Martin W. Hüfner, Chefvolkswirt bei Assenagon Asset Management S.A., unter anderem über die Risiken auf der volkswirtschaftlichen Risikolandkarte, die Zukunft der EU, die Regulierung der Banken sowie das Risiko einer systemischen Krise.

Sie schrieben jüngst in einem Beitrag zum Thema Griechenland: "Die Ereignisse in Griechenland sind für die Entwicklung der Aktienmärkte zwar wichtig. Sie sind aber nicht alles." Welche Risiken sehen Sie für den Kapitalmarkt aktuell als größere Gefahren an?

Martin W. Hüfner: Das wichtigste Problem der nächsten Monate ist für mich die in den USA anstehende Zinserhöhung. Die Märkte der Industrieländer haben sich darauf inzwischen weitgehend vorbereitet. Da wird vermutlich nicht viel passieren. Schwierig aber wird es in einer Reihe von Schwellen- und Entwicklungsländern, in denen es zu Abflüssen von Kapital mit entsprechenden Konsequenzen für die Wechselkurse und die Inflation kommen könnte. Also ein zweites "taper tantrum" wie im Juni 2013. Ein anderes Risiko sind die Strukturschwächen in einer Reihe von Schwellen- und Entwicklungsländern, wie etwa Brasilien, Russland, Südafrika, China oder der Türkei. Sie bremsen das Wachstum, das für diese Länder so wichtig ist, und können zu Verwerfungen führen. Ein drittes Risiko, das damit zusammenhängt: die Schwäche der Rohstoffpreise. Als Rohstoffverbraucher freuen wir uns darüber. Für viele Rohstoffproduzenten bedeutet es jedoch Einnahmeausfälle, die schwer aufzufangen sind. In Industrieländern könnte das Gespenst der Deflation wieder aufkommen.

Ein Blick zurück auf Griechenland. Allen Beteiligten dürfte klar gewesen sein, dass das Land seine Schulden nie zurückzahlen kann. Experten, wie der US-Großinvestor George Soros, forderten bereits 2013 einen Schuldennachlass. Und selbst der ehemalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi merkte im Februar in einem Interview mit dem Tagesspiegel an: "Die Auflagen müssen sich in einem realistischen Rahmen halten. Jeder weiß doch, dass Griechenland seine Schulden niemals zurückzahlen wird." Ergo, mit welcher Blauäugigkeit gehen Politiker und Bankenvertreter in solche Verhandlungen?

Martin W. Hüfner: Ich glaube, in dieser Diskussion geht einiges durcheinander. Natürlich kann Griechenland seine Schulden nicht zurückzahlen. Aber auch Deutschland oder auch Amerika – als AAA Schuldner – können ihre Verbindlichkeiten nicht zurückzahlen. Das wäre ökonomisch auch nicht sinnvoll. Ich erinnere mich, wie es in den USA in den 90er Jahren zu einer Panik an den Kapitalmärkten kam, als die US-Regierung verkündete, dass sie keine 30-jährigen Staatsanleihen mehr begeben wolle, weil sie im Budget einen Überschuss hatte. Das Problem ist nicht die Fähigkeit zum Rückzahlen der Schulden, sondern die Fähigkeit zum ordentlichen Bedienen der Schulden. Die ist in Griechenland angesichts der extrem niedrigen Zinsen und langen Laufzeiten der Kredite überhaupt nicht gefährdet. Im übrigen muss man angesichts des Drängens des Internationalen Währungsfonds auf einen Schuldenschnitt fragen: Kann man von den Gläubigern wirklich verlangen, zur gleichen Zeit Schulden zu erlassen und neue Kredite zu gewähren? Das kann man keinem Steuerzahler erklären. Was würden die Banken machen, wenn man ihnen das antragen würde?

Die politische Dimension eines Scheiterns mit Griechenland dürfte durchweg als Signalwirkung einer schwächelnden EU verstanden werden. Sprich, die Strahlkraft und der Zusammenhalt, den die geistigen Väter des europäischen Gedankens einst im Sinn hatten, ginge ein Stück weit verloren. Wie sehen Sie diese Situation?

Martin W. Hüfner: Das ist richtig. Man sollte hier aber auch nicht übertreiben. Wegen Griechenland gehen weder die Europäische Union noch die Währungsunion zugrunde. Griechenland war – und ist noch – eine Herausforderung für die europäische Politik. Sie wurde nicht optimal gehandelt. Aber sie ist kein Grund, das ganze Projekt Europa in Frage zu stellen. Europa hat schon schwierigere Zeiten erlebt, etwa als Frankreich eine Politik des "leeren Stuhls" betrieb. Ein möglicher Austritt Großbritanniens aus der EU ist sicher auch ein größeres Problem für die Gemeinschaft. Aber auch das wird die EU nicht kaputt machen. Ich fand es in der Krise bemerkenswert, dass alle über Griechenland und die daraus resultierenden Lasten klagten, aber niemand sich wirklich eine neue Währung wünschte. Das ist kein schlechtes Zeichen. Europa lebt und wird weiter leben. Seine Strahlkraft ist mal größer und mal kleiner.

Welche Antworten kann Europa dem entgegensetzen, abseits des Dauerthemas Geldpolitik und der von Ihnen beschriebenen "Unverbrüchlichkeit der Gemeinschaftswährung" und "der Stabilität der Wechselkurse"? Sprich, welche Chancen sehen Sie?

Martin W. Hüfner: Europa ist nicht so schlecht, wie man unter dem Eindruck der Krise manchmal denken mag. Man muss nur einmal schauen, was das Ausland so denkt. Die Schweiz wäre liebend gern unter dem Schutz einer großen europäischen Währung, um so dem Aufwertungsdruck zu entgehen (aus politischen Gründen würde sie natürlich dem Euro nie beitreten). In Großbritannien überlegt man sich sehr wohl, ob man die Vorteile des Binnenmarkts und der Rolle als europäisches Finanzzentrum durch einen Austritt aus der EU in Frage stellen will. In Asien beneiden uns viele darum, dass es gelungen ist, in Europa nach Jahrhunderten Krieg wieder Frieden herzustellen. In den südostasiatischen Ländern des ASEAN-Pakts wird Europa als Vorbild für die weitere Integration gesehen. So schlecht kann es in Europa also nicht sein.

Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, so die Meinung vieler "Experten". Dies zeigt sich auch bei einem Blick auf den Globus mit seinem Verteilungs- und Verdrängungskampf. Während reiche Nationen voranschreiten sowie wirtschaftlich und technologisch den Ton angeben, geraten immer mehr Länder und Menschen ins Hintertreffen. Wie kann ihrer Meinung nach eine gerechtete Welt aussehen, und was müssen die führenden Nationen leisten?

Martin W. Hüfner: Ich widerspreche dem Eindruck, als gehe der weltweite Verteilungs- und Verdrängungskampf immer und zwangsläufig zulasten der Schwellen- und Entwicklungsländer und zugunsten der Industrieländer. Weite Teile Afrikas, China, Indien und andere Staaten wachsen immer noch schneller als die industrialisierte Welt. Sie haben bemerkenswerte Fortschritte bei der Bekämpfung der Armut gemacht. Natürlich befinden sie sich augenblicklich in einem Tief; da kommen sie aber auch wieder heraus. Trotzdem muss man natürlich etwas tun, um die Armen in der Welt zu unterstützen. Ich bin kein Freund von Entwicklungshilfe. Die kostet viel Geld, hat am Ende aber nicht so viel gebracht, wie wir wollten. Die beste Entwicklungshilfe ist aus meiner Sicht eine Öffnung der Grenzen der Industrieländer für die Produkte der Dritten Welt. Das gilt sowohl für landwirtschaftliche Güter als auch für Industriegüter und Dienstleistungen. Das sollten wir tun. Wir werden auch nicht umhin kommen, mehr Zuwanderung aus der Dritten Welt zuzulassen. Umwelt- und Klimapolitik helfen nicht nur den Industrieländern, sondern auch den Armen der Welt.

Wir stehen unter dem Diktat des permanenten "Wachstumszwangs". Liegt nicht hierin eines der Grundübel in unserem ökonomischen Denken? Gerade mit Blick auf Deutschland, das – überspitzt formuliert – seit dem Ende des 2. Weltkriegs sein Glück fast ausschließlich im marktwirtschaftlichen Denken sucht? Und das selbst einmal in den Genuss eines Schuldenschnitts im Rahmen der Londoner Schuldenkonferenz von 1953 kam.

Martin W. Hüfner: Das sind drei Fragen auf einmal. Ich widerspreche dem Wort "Wachstumszwang". Deutschland hat sich inzwischen damit abgefunden, dass die Wirtschaft nicht schneller als 1 bis 1 ½ Prozent per annum wächst, das ist fast nichts mehr. Das hätte ich mir vor zehn, zwanzig Jahren nicht vorstellen können. Wir haben keinen Wachstumszwang mehr. In den USA klagen manche jetzt über die "secular stagnation". Auch sie werden sich an das langsamere Wachstum gewöhnen. Was die Marktwirtschaft betrifft, so hat sich auch hier manches verändert. Wir sehen das nicht mehr so ideologisch. In Anlehnung an ein Wort Churchills zur Demokratie würde ich sagen: Die Marktwirtschaft ist nicht perfekt (vor allem nicht im Hin- blick auf die Verteilung), wir kennen aber keine bessere Wirtschaftsordnung. Wir sollten uns also nicht zu stark über die marktwirtschaftliche Orientierung beklagen. Und zur Londoner Schuldenkonferenz: Ich halte es nicht für sinnvoll, das jetzt aus der Mottenkiste der Geschichte hervorzuholen. Das war damals etwas ganz anderes. Es war ein Schritt, um Deutschland nach dem Krieg auf den Pfad des Aufschwungs zu setzen und im westlichen Bündnis zu verankern. Wenn wir heute in Griechenland so sicher wären, dass damit der Aufschwung des Landes gesichert und nicht nur ein Loch gestopft würde, dann würde sich niemand dagegen sträuben.

Nach der Finanzkrise von 2008 waren die Rufe laut nach Regulierung der Banken und ihrer Finanzgebaren. Was ist daraus geworden? Welchen Einfluss kann die Politik nehmen, die anfangs laut nach schärferen Gesetzen schrie und nun merklich verstummt ist. Experten sehen, dass sich nicht wirklich etwas geändert hat im Finanzsystem. Wie schätzen Sie das ein?

Martin W. Hüfner: Ich sehe die Regulierungswut der Aufsichtsbehörden nach der Finanzkrise auch kritisch. Wenn Politiker den Anspruch haben, dass "keine Ecke der Finanzmärkte frei von Regulierung sein darf", wie das die Staats- und Regierungschefs der G 20-Gruppe formuliert haben, dann ist das Zentralverwaltungswirtschaft, nicht Marktwirtschaft. Das lehne ich ab. Die Anhebung der Eigenkapitalquoten bei den Banken war zweifellos richtig, und sie hat die Stabilität des Finanzsystems erhöht. Jetzt sollte es damit aber auch genug sein. Wir sollten jetzt darüber nachdenken, wie wir den Wettbewerb im Finanzsystem wieder erhöhen und die Haftungsregeln verbessern können. Marktwirtschaft sollte auch im Finanzsystem gelten. Sie regelt manches einfacher und besser, was die Aufsichtsbehörden jetzt im Blick haben und glauben, regeln zu müssen. Wir brauchen eine starke Aufsicht und einen harten Wettbewerb. Beides gehört zusammen. Im Augenblick haben wir nur die starke Aufsicht. Im übrigen sollten die Banken sich selbst an die Brust klopfen und ernst machen mit Kulturwandel und Corporate Governance. Da ist noch manches im Argen. Wenn sie das reparieren, würde manche Kritik der Öffentlichkeit an ihnen leiser.

Wurde das Risiko einer systemischen Krise durch die Finanzmarktregulierung reduziert oder eher verstärkt?

Martin W. Hüfner: Das Risiko einer systemischen Krise ist heute geringer als vor ein paar Jahren – aber nicht weil die Finanzmarktregulierung so gut ist, sondern weil das Bewusstsein für die Gefahren gestiegen ist und sich die Aufsicht und die Marktteilnehmer auf solche Ereignisse besser vorbereiten. Die Finanzmarktaufsicht hat durch Regulierungen sicher manches verbessert, sie hat aber auch neue Risiken geschaffen (zum Beispiel die Liquiditätsenge auf manchen Märkten).

Wenn Sie den Blick nach vorne richten. Wo steht Europa wirtschaftlich, politisch und sozial in zehn Jahren? Und welche Anstrengungen müssen die politischen Verantwortlichen unternehmen, um Europa als Ganzes vielleicht in ein neues Zeitalter zu überführen?

Martin W. Hüfner: Ich habe keine Glaskugel, um das vorherzusagen. Ich habe aber eine Idee von dem Weg, den wir in Europa gehen sollten. Jeder sagt heute, wir brauchen mehr Integration bis hin zu einer politischen Union. Sonst funktioniert die Gemeinschaftswährung Euro nicht. Das ist richtig. Das Problem ist nur, dass die Bürger das nicht wollen. Bevor wir an mehr Integration auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Währungspolitik denken, müssen wir die Bereitschaft der Bürger dazu gewinnen. Und das geht nur durch Desintegration, also Verlagerung von Befugnissen aus Brüssel in die Mitgliedstaaten oder besser noch in die Regionen. Vieles, was jetzt auf EU-Ebene geregelt wird, kann viel besser auf der Ebene der Staaten oder der Regionen gestaltet werden. Die Lösungen wären dann näher am Bürger und würden von ihm eher akzeptiert. Wir brauchen also beides: Integration und Desintegration. Sonst geht es nicht.

Dr. Martin W. Hüfner ist Chefvolkswirt bei Assenagon. Viele Jahre war er Chefvolkswirt der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank AG und Senior Economist der Deutschen Bank AG.

Dr. Martin W. Hüfner ist Chefvolkswirt bei Assenagon. Viele Jahre war er Chefvolkswirt der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank AG und Senior Economist der Deutschen Bank AG. Er leitete fünf Jahre den renommierten Wirtschafts- und Währungsausschuss der Chefvolkswirte der Europäischen Bankenvereinigung in Brüssel. Zudem war er über zehn Jahre stellvertretender Vorsitzender beziehungsweise Vorsitzender des Wirtschafts- und Währungsausschusses des Bundesverbandes Deutscher Banken.

Nach Ausbildung als Redakteur bei der Mainzer Allgemeinen Zeitung und Studium der  Volkswirtschaftslehre in Paris und München sowie anschließender Promotion startete er 1967 seine Kariere als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität München.

Martin W. Hüfner ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem "Europa – Die Macht von Morgen" (2006), "Comeback für Deutschland" (2007), "Achtung: Geld in Gefahr" (2008), "Rettet den Euro!" (2011) und "40 Geld-Fallen, die Sie besser vermeiden – Warum alles falsch ist, was wir über Wirtschaft wissen" (2014). Dr. Martin W. Hüfner hat mehrere ehrenamtliche Positionen inne. Er ist Fellow am Centre for Applied Policy Research an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Bertelsmann Reform Index. Zudem sitzt er dem Aufsichtsrat der Fonds Consult Research AG vor.

Dr. Martin W. Hüfner ist Referent auf dem diesjährigen RiskNET Summit in München. Er wird einen Blick auf die globale Risikolandkarte werfen. Ergänzende und aktuelle Informationen zum RiskNET Summit 2015 finden Sie hier:

summit.risknet.de

[Die Fragen stellte Frank Romeike, Chefredakteur RiskNET sowie verantwortlicher Chefredakteur der Zeitschrift RISIKO MANAGER sowie Mitglied des Vorstands beim Institut für Risikomanagement und Regulierung (FIRM); Das Interview ist erstmalig in Ausgabe 17/2014 der Zeitschrift RISIKO MANAGER im FIRM Special veröffentlicht worden.]

[ Bildquelle Titelbild: © ferkelraggae - Fotolia.com ]
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